Ist Hochsensibilität(doch)ein psychopathologisches Phänomen?
Meine Intension zu diesem Text war, dass wohl jeder/ jede HSP sich und seine Alltagspathologien kennt. Jeder hat auch für sich seine eigene Methode mit diesen umzugehen, doch an vielen Stellen gibt es sicherlich noch Fragen oder wird Hilfe im Umgang mit dem ein oder anderen Problem gesucht. Keiner kann eine allgemein-gültige Antwort geben, aber vielleicht können wir uns, im Austausch darüber, gegenseitig hilfreich sein!
Grundlegendes:
ist die Charakterisierung des Phänomens Hochsensibilität als „neurologische Besonderheit“, die als solche Vor- und Nachteile mit sich bringt, auf jeden Fall aber KEINE Krankheit ist. Für die Erforschung dieser besonderen neurologischen Konstitution ist infolge dessen vornehmlich die Persönlichkeitspsychologie,
NICHT die Psychopathologie zuständig. Eine Konsultation psychopathologischer/psychiatrischer Literatur bestätigt den Kern dieser Sicht der Dinge, führt aber gleichzeitig zu verblüffenden Einsichten.
Zunächst fällt auf, man im Grunde hauptsächlich gesund ist. Klar hat so manche HSP ihre melancholischen Phasen,aber mit einer affektiven Psychose hat das nichts zu tun.
Ebenso vergessen können wir Schizophrenien und wahnhafte Störungen: Wer Geräusche hört, die andere erst dann (dann
aber sehr wohl!) hören, wenn man sie darauf hinweist, leidet nicht unter Halluzinationen. Abhängigkeiten oder psychische Störungen – NEIN beim besten Willen nicht.
Psychoreaktion:
Interessanter wird es erst bei den psychoreaktiven Störungen, hier gibt es zum Teil fließende Übergänge zu ‚normalen’ Psychopathologien des Alltagslebens, die im Grunde jeder kennt. Hierzu gehören etwa Zwangsgedanken aus der Kategorie ‚Habe ich die Tür abgeschlossen?’ oder 'Habe ich die Kaffeemaschine ausgeschalten?'(, die wird man am besten durch Ablenkung los, nicht durch Unterdrückung und schon gar nicht durch Nachgeben, da sonst eine Bahnung eintritt: Das Nervensystem gewöhnt sich an die Zwangsgedanken/handlungen).
Man muss hier feststellen: ‚Ansätze’ von Störungen, die sich in den Lehrbüchern finden, sind der HSP durchaus bekannt. Freilich scheinen die, man ist versucht zu sagen: „Symptömchen“, weit von einer Schwelle zur echten (behandlungsbedürftigen) Störung entfernt zu sein. Es stellt sich hier, wenn überhaupt, meist nur die Frage, ob sich die erwähnten Ansätze aufgrund irgendeines ‚Verstärkungseffektes’, den die Hochsensibilität mit sich bringt, etwas intensiver darstellen als beim Durchschnittsbürger, oder ob man sie schlicht aufgrund stärker trainierter Selbstbeobachtung eher problematisiert.
(Eine Ausnahme: die ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung“, die nicht nur ihrer Symptome wegen sondern auch auf aufgrund eines Synonyms hellhörig werden lässt: 'Sensitive Persönlichkeit'. Die Beschreibungen dieser Persönlichkeitsstörung erscheinen teilweise doch recht bekannt: „ausgeprägte Empfindsamkeit, Schüchternheit, Kontaktscheu, mangelnde Durchsetzungsfähigkeit und Insuffizienzgefühle“ (VETTER). Es ist die Rede von „äußerst" empfindliche[n] Menschen, die stark zu beeindrucken sind und sich leicht verletzt fühlen und zurückziehen, um Konflikte zu vermeiden“ (HARING).)
Interessant ist:
Teilweise wird in der Forschung vermutet, diese Persönlichkeitsstörung könne ihren Ursprung in einem genetisch bedingten „gehemmten Temperament“ (BUTCHER/HOOLEY/MINEKA) haben, wenn Kinder mit entsprechender Konstitution seelischen Misshandlungen ihrer Eltern ausgesetzt seien. ARON, ARON und DAVIES meinen, wie ALEX BERTRAMS auf der IFHS Webseite schreibt, Hochsensibilität werde zum Problem, wenn ein betroffenes Kind eine „ungünstige[..] elterliche[..] Umwelt“ erlebe. Schließlich entdeckt die psychopathologische Literatur sogar Vorteile(!) der Ängstlichen (vermeidenden) Persönlichkeitsstörung: Entsprechende Begabung vorausgesetzt, könne eine „gesteigerte[..]Ausdruckskraft [...] ein positiver Aspekt dieser Disposition“ (HARING) sein.
Hier zeigt sich, dass die Störung nicht identisch sein kann mit dem Konstrukt Hochsensibilität. Sie ist allenfalls ihre Folge, und auch das nur im Zusammenspiel mit anderen Faktoren. Darüber hinaus war diese Darstellung insofern etwas einseitig, als dass es den AutorInnen (jedenfalls den meisten) gar nicht darum geht, eine besondere sensorische Empfindlichkeit aufzuzeigen. Die wesentlichen Probleme Betroffener sehen sie in sozialer Hinsicht: Rückzug und Vermeidungsverhalten aufgrund von Empfindlichkeit gegenüber Kritik, aus Angst vor tatsächlicher oder vermuteter sozialerZurückweisung, was zu Isolation führen kann.
Es bleibt trotzdem der Verdacht, dass es sich durchaus, jedenfalls für die eine oder andere HSP, lohnen kann, sich mit dieser Persönlichkeitsstörung zu beschäftigen, mag man sich auch in diesem Fall noch diesseits der ‚Krankheitsschwelle’ aufhalten. Wer zu den HSP gehört, die Probleme im Zusammenhang mit Intimbeziehungen haben, könnte Erhellendes bei SACHSE finden: Er beschreibt ausführlich ein Gefühl der Minderwertigkeit, des fehlenden Wertes auf dem Partnerschaftsmarkt, das
zusammen mit Angst vor Zurückweisung, die die obigen Annahmen bestätigen würde, zu einer sehr
passiven Haltung führe. Bevor der bzw. die!Betroffene ‚aktiv’ werden, brauche er oder sie deutliche, objektiv überdeutliche Signale des Interesses und der Zuneigung.
Fazit:
Hochsensibilität ist tatsächlich kein psychopathologisches Phänomen. Die Lektüre entsprechender Literatur mag allerdings – nicht nur HSP – helfen, mit den kleinen Pathologien des Alltags besser zurechtzukommen.
Nicht befragt wurde an dieser Stelle die Neuropathologie.
Quellen:
BUTCHER, JAMES N., HOOLEY, JILL M., MINEKA, SUSAN, Klinische Psychologie, 13. Auflage, Mün3
chen 2009 (S. 4703472)
FIEDLER, PETER, Persönlichkeitsstörungen, 6. Auflage, Weinheim, Basel 2007 (S. 2093217)
HARING, CLAUS, Psychiatrie, 3. Auflage, Wiesbaden 2004 (speziell S. 155)
SACHSE, RAINER, Persönlichkeitsstörungen, Göttingen 2004 (S. 64372)
VETTER, BRIGITTE, Psychiatrie, 7. Auflage, Stuttgart 2007 (S. 70f.)
Dieser Text wurde in freundlicher Zusammenarbeit mit Dr. Michael Jack erstellt.Dr. Michael Jack ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum und Präsident des IFHS ( Informations und Forschungsverbundes Hochsensibilität e.V.).