Frau Haferkorn feiert Weihnachten
Heute ist Heiligabend. Ein wichtiger Tag im Kirchenjahr. Und da Frau Haferkorn in dieser Beziehung sehr penibel ist – eigentlich ist sie in jeder Beziehung penibel – muss heute alles perfekt sein.
Frau Haferkorn ist eine kleine, drahtige Person Mitte siebzig, die ihr Leben „auf der Reihe“ hat. Sie lebt in einer adretten Zweizimmerwohnung, die peinlich sauber ist, putzt jeden Freitag die Fenster, das Treppenhaus und ihr Auto und hat klare Regeln für ihren Alltag. All das geht ihr leicht von der Hand, weil tausendfach geübt und wiederholt.
Auf dem Couchtisch brennen heute vier Kerzen, aber einen Weihnachtsbaum gibt es in der Wohnung nicht. Nicht, dass Frau Haferkorn etwas gegen Weihnachtsbäume einzuwenden hätte, aber sie sieht nicht ein, dass für eine einzelne Person ein Baum gefällt werden muss. Diesbezüglich ist Frau Haferkorn sehr ökologisch eingestellt. Außerdem würde sie sich an den Nadeln stören, die noch Monatelang aus allen Ecken kriechen. Aber das verschweigt sie auch vor sich selbst, denn sie würde nicht zugeben, irgendwo eine Tannennadel übersehen zu haben, was ja - mangels Weihnachtsbaum - auch nicht notwendig ist.
Zum Kirchgang kleidet sich Frau Haferkorn dezent, aber sorgfältig. Sie wählt ein graues Bouclé-Kostüm kombiniert mit einer altrosa Bluse und akzentuiert mir der Perlenkette ihrer Mutter, die diese auf der Flucht aus Pommern gerettet hatte. Ihre Mutter pflegte immer zu sagen „Perlen bedeuten Tränen“. Trotzdem trägt Frau Haferkorn die Kette gerne zu solchen Anlässen wie heute, denn sie findet, sie sieht damit recht distinguiert aus.
Die Predigt der Frau Pfarrer ist nicht wirklich aufwühlend, oder mitreißend. Es ist eine Predigt, wie sie überall an Heiligabend gepredigt wird. Irgendwie nichts sagend, aber dennoch mit einer Träne im Knopfloch.
Nach dem Gottesdienst geht Frau Haferkorn zufrieden, weil alles so wie immer ist, zurück zu ihrer kleinen Wohnung. Das Leben geht seinen Gang. Die Regeln sind klar. Nichts stört den gewohnten Ablauf.
Als Frau Haferkorn an ihrer Wohnungstür angelangt ist, schrickt sie aus ihren Gedanken auf. Da kauert eine Gestalt auf ihrer Fußmatte. Es ist ein rothaariger, stupsnasiger kleiner Junge, der mit seinen riesigen grünen Kulleraugen zu ihr aufschaut. „Hallo, Tante Haferkorn! Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr“ sagt das Kind. Frau Haferkorn runzelt missbilligend die Stirn. Sie kennt diesen Jungen nicht und sieht sich um, ob die Eltern wohl irgendwo sind. Aber da ist niemand.
„Kind, wer bist du denn überhaupt und was willst du von mir? Ausgerechnet heute, am Heiligabend belästigt man doch keine Leute!“ Frau Haferkorn hat ein ungutes Gefühl. So etwas gibt es doch nicht und darf auch gar nicht sein.
„Tante Haferkorn, du kennst mich auch nicht. Aber dein Name, der klingt so schön. So gemütlich und nach Essen, da dachte ich, hier komme ich heute Abend hin. Lässt du mich rein?“
Frau Haferkorn fühlt sich unwohl in dieser Situation. Sie überlegt, ob sie das Jugendamt, die Polizei, oder die Caritas anrufen soll, aber hier im Treppenhaus will sie das nicht mit sich ausdiskutieren. Den Jungen kann sie auch nicht einfach hier stehen lassen. Also schließt sie die Tür auf und schiebt den Buben nach kurzem Zögern zur Tür hinein, nachdem sie sich mit einem Blick versichert hat, dass niemand anders im Treppenhaus ist, der die Szene beobachtet haben könnte. Man kann ja heutzutage nicht vorsichtig genug sein und die Leute reden schnell über einen.
Drinnen angekommen herrscht zunächst unbehagliches Schweigen. Doch dann atmet Frau Haferkorn tief durch und bugsiert den Jungen in die Wohnstube, wo es behaglich warm ist.
„Oh, Tante Haferkorn, zünde die Kerzen an, bitte, bitte“ sagt der Junge mit den grünen Augen. Und um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, gibt Frau Haferkorn dem Drängen nach.
„Tante Haferkorn, erzähl mir doch, warum sind es genau vier Kerzen auf dem Adventskranz?“
„Ach, Kind, das kann ich dir gerade nicht erklären. Ich gehe mal in die Küche und du bleibst schön brav hier. Und wehe, du zündelst mit den Kerzen!“ sagt Frau Haferkorn.
In der Küche angekommen atmet sie tief durch. So viel Aufregung ist sie nicht gewohnt und das ist auch nicht gut für ihren Blutdruck. Sie nimmt sich ein Glas aus dem Schrank, füllt es mit frischem Wasser aus dem Hahn. Viele Gedanken blitzen in ihrem Kopf auf und sie fühlt sich durcheinander. Bilder aus ihrer eigenen Kindheit, der Flucht aus Pommern, dem Hunger. Und sie strafft ihre Schultern, öffnet den Kühlschrank und häuft all die kleinen Leckereien, die sie für die Feiertage vorbereitet hatte auf eine Platte, die sie mitsamt einer Milchpackung ins Wohnzimmer jongliert.
Dort sitzt andächtig der Junge vor dem Adventskranz und als sie eintritt werden seine Augen tellergroß.
„Tante Haferkorn, das ist aber viel Essen!“
Frau Haferkorn schaut unwirsch und sagt: „Kind, iss einfach!“
„Tante Haferkorn, ich finde es gemütlicher, wenn wir zusammen essen“ sagt der Junge.
Und Frau Haferkorn lässt sich auf ihrem ausgesessenen Sessel nieder und isst mit dem Kind.
Fragen tun sich währenddessen bei ihr auf und sie ist froh um die Pause, die das gemeinsame Essen ihr verschafft. Sie weiß, sie hätte sofort bei irgendeinem Amt anrufen müssen. Je länger sie damit wartet, desto großer werden wahrscheinlich die Schwierigkeiten, in die sie geraten wird.
„Tante Haferkorn!“ reißt der Junge sie aus ihren Gedanken. „Tante Haferkorn, lass uns etwas zusammen spielen.“ Frau Haferkorn runzelt die Stirn. „Ich habe keine Spiele. Und ich bin auch zu alt zum Spielen.“
Enttäuscht lässt der Junge die Schultern hängen. Doch plötzlich strahlt er wieder. „Ich hab war zum Spielen dabei, Tante Haferkorn, schau!“ Und er kramt aus seinen unsäglichen Hosentaschen ein paar Murmeln heraus. „Komm, wir spielen Klicker. Das kann jeder.“
Um Zeit zu gewinnen und zu überlegen, was zu tun ist, lässt sie sich auf das Spiel ein.
Nach einer Weile kniet das seltsame Paar gemeinsam am Boden und spielt mit den Murmeln. Beide lachen, bis ihnen beinah die Tränen kommen.
Der Abend wird spät und Frau Haferkorn beschließt, dass sie den Jungen genauso gut auch morgen dem Amt übergeben kann. Sie richtet ihm ein frisches Bett auf der Couch und bleibt noch lange neben ihm sitzen, während er längst eingeschlafen ist. ‚Was für ein bemerkenswertes Kerlchen’, denkt sie sich, bevor sie sich in ihr Schlafzimmer begibt.
Am nächsten Morgen findet sie das Bett unberührt vor. Es ist, als sei der Junge nie hier gewesen. Nur auf dem Kopfkissen liegt eine wunderschöne Glasmurmel.
(c) Rhabia