Die offene Beziehung ist auf dem Vormarsch, Monogamie als Einheitsgröße für Beziehungen auf dem Rückzug. Unsere Autorin war zu Beginn skeptisch – und am Ende doch überzeugt. Von einer Reise, die nicht für alle die richtige ist.
Von Svenja Sörensen
Mein erster Kontaktpunkt – ein Schockmoment
Mein Mann und ich saßen uns auf dem Sofa gegenüber, er kam frisch aus einem Auslandssemester zurück und stellte mir völlig unverblümt die Frage der Fragen: "Was hältst du eigentlich von einer offenen Beziehung?" Auf meiner Seite Schockstarre. Völlige Panik gefolgt von einer Endlosschleife an negativen Gedanken und Vorurteilen:
"Ich bin nicht gut genug!"
"Wie kann er mir das antun?"
"Man kann in einer Beziehung doch nicht machen, was man will!"
"Das ist doch dann keine echte Beziehung mehr."
Die Vorstellung, mein Mann könnte – wohlgemerkt mit meiner Erlaubnis – mit einer anderen Frau sexuell intim werden, war für mich zum damaligen Zeitpunkt absolut undenkbar, gar abstoßend.
Ich konnte damals gar nicht anders, als auf diese Weise zu reagieren, weil in meiner Welt nichts außerhalb der Monogamie existierte. Ich kannte schlichtweg nichts anderes. Und doch hatte ich eine ganz genaue Vorstellung davon, warum eine offene Beziehung für mich absolut nicht in Frage käme. Monogamie war für mich die einzig richtige Beziehungsform. Und dir geht es vielleicht genau so.
Nach der ersten Schockstarre folgte der Realitätscheck
Mit etwas Abstand stellte ich fest, dass mich das Thema offene Beziehung nicht losließ. Im Rückblick auf meine bisherigen Beziehungen gestand ich mir ein, dass auch für mich das Konzept der Monogamie offenbar nicht so funktionierte, wie ich dachte. In Sachen Fremdgehen war ich sowohl die Betrogene als auch Betrügerin gewesen. Ein Blick auf die Statistik verriet mir – es geht nicht nur mir so.
Bei einer Umfrage im Jahr 2017 zur Untreue in der Beziehung gab rund ein Fünftel der weiblichen Befragten an, ihrem Partner in einer Beziehung bereits untreu gewesen zu sein. Unter den männlichen Befragten über ein Viertel.
Quelle: Statista Research Department, 06/22, Umfrage zum Fremdgehen in Deutschland in 2017 nach Geschlecht
Autsch, diese ehrliche Selbstreflexion tat weh und katapultierte mich in ein echtes Dilemma. Offene Beziehung – wäre das etwas für mich? Und was ist das eigentlich? Heißt das, jeder und jede kann machen, was er oder sie will?
Von Unbehagen und Neugier auf das Unbekannte
Die Ausgangsfrage "Bin ich der Typ für eine offene Beziehung?" kann ich für mein Vergangenheits-Ich definitiv verneinen. Vermutlich wäre ich selbst nie auf die Idee gekommen, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Ich würde noch immer an die Monogamie als One-fits-all-Konzept glauben und die Augen vor der Wahrheit verschließen. Auf der einen Seite waren da Unwissenheit, auch Bequemlichkeit, Unsicherheit und die Angst vor Neuem. Auf der anderen Seite gab es den Reiz des Unbekannten.
Es steht außer Frage, dass durch die Idee einer offenen Beziehung mein Verständnis von Liebe und Beziehung ordentlich ins Wanken geriet. Doch neben der Angst und Unsicherheit, war ich auch verdammt neugierig. Verbarg sich hinter meiner Angst irgendwas Wundervolles?
Es hatte sich für mich zuvor immer gelohnt, meine Komfortzone zu verlassen, und Menschen mit meinen Lebensentscheidungen zu überraschen, war nichts Neues für mich. Warum nicht auch in meiner Beziehung unkonventionelle Wege einschlagen?
Die Bereitschaft, Gelerntes zu hinterfragen
Monogamie ist das geläufigste Beziehungsmodell im deutschsprachigen Raum, doch gibt es ein Aber. Denn das ursprüngliche Konzept von Monogamie haben wir längst an unsere modernen Bedürfnisse angepasst.
Monogamie bedeutet eigentlich "Einehe" und schließt die kirchliche Eheschließung zwischen Mann und Frau ein, die dem partnerschaftlichen Sex vorausgeht. Die meisten von uns leben heute "seriell monogam": In einer Partnerschaft selbst besteht sexuelle Exklusivität, aber es ist üblich, im Laufe seines Lebens mehrere Beziehungen zu führen. Sex findet gewöhnlich unabhängig von einer Eheschließung statt.
Die Zahl der Eheschließungen ist rückläufig. 1950 wurden noch 750.452 Ehen geschlossen, 2021 waren es nur noch 357.799.
Quelle: Statista Research Department, November 2022, Statistiken zum Thema Hochzeit
War es für dich bisher selbstverständlich, monogame Beziehungen zu führen, doch eine Ehe kam für dich nie in Frage? Die Bereitschaft, unkonventionelle Wege zu gehen, entscheidet maßgeblich darüber, ob du der Typ für eine offene Beziehung bist oder nicht. Frage dich zum Beispiel: Was bedeutet Treue für dich?
Was bedeutet Treue für dich?
Treue ist einer der Werte, die mit Liebesbeziehungen untrennbar in Zusammenhang stehen. Beantworte folgende Fragen um der Antwort darauf näherzukommen, ob du der Typ für eine offene Beziehung bist.
- Was bedeutet Treue konkret für dich?
- Wie fühlst du dich in deiner Beziehung sicher?
- Wodurch spürst du Vertrauen in deiner Partnerschaft?
- Was gibt dir das Gefühl von Verbindlichkeit?
In einer offenen Beziehung ist die sexuelle Exklusivität innerhalb der Partnerschaft aufgehoben. Die Partner:innen haben die Freiheit, auch mit anderen Menschen intim zu werden. Das kann auf Dauer aber nur funktionieren, wenn diese Vereinbarung mit den eigenen Werten im Einklang steht. Reflektiere, was Treue für dich bedeutet und komme so der Antwort ein Stückchen näher, ob du der Typ für eine offene Beziehung bist.
Wohin mit der Eifersucht?
"Für eine offene Beziehung bin ich viel zu eifersüchtig." Dieser Satz hätte von mir stammen können. Seit ich denken kann, war ich in Beziehungen eifersüchtig und unsicher. Bis ich verstanden habe, dass gutes Selbstwertgefühl mit starker Eifersucht nicht koexistieren kann.
Die eigene Eifersucht in den Griff zu bekommen, bedeutet, ihre Signalfunktion zu verstehen und sich in Impulskontrolle zu üben. Denn in Momenten der Eifersucht verlieren wir ein Stück weit die Kontrolle. Und die gilt es zurückzugewinnen, indem wir eine Affekthandlung vermeiden. Mir selbst helfen in solchen Momenten ein Achtsamkeitstraining oder auch Atemübungen, die mich zur Ruhe kommen lassen.
Impulskontrolle kannst du in einer offenen Beziehung wunderbar üben, weil sie die eigenen Baustellen immer wieder zum Vorschein bringt. Um eine offene Beziehung zu führen, musst du nicht eifersuchtsfrei sein. Du solltest die Bereitschaft mitbringen, deine Eifersucht zu verstehen und Verantwortung für "negative" Emotionen und Gefühle zu übernehmen. Dem oder der Partner:in die Schuld für die eigenen Konflikte zuzuweisen, ist immer der einfachere Weg.
Beobachte, in welchen Momenten du eifersüchtig wirst und stelle dir dann folgende Fragen.
- Wodurch wird das Gefühl der Eifersucht bei dir ausgelöst?
- Was fehlt dir in diesen Momenten?
- Welche Unsicherheiten steigen in dir auf?
Und jetzt?
Du hast den ersten Schritt gemacht und dich selbst und deine Bedürfnisse hinterfragt. Du hast einige Zeit mit den Fragen verbracht und bist mit deinem Gegenüber in Dialog getreten. Ihr habt euch beispielsweise darüber ausgetauscht, was Treue für euch bedeutet und wann ihr Eifersucht empfindet. Dann bist du jetzt vielleicht an einem der folgenden drei Punkte gelandet:
1. Du bist bereit für eine offene Beziehung
Niemand kann dir mit Sicherheit voraussagen, ob du der Typ für eine offene Beziehung bist. Vermutlich kennst du deine persönliche Tendenz schon längst. Wenn du dich schon mehrmals mit dem Thema auseinandergesetzt hast, kann es sein, dass eine offene Beziehung genau das ist, was du suchst.
Dir ist Verbindlichkeit ebenso wichtig wie Freiheit. Deinen Alltag teilst du gerne mit einem festen Partner oder einer festen Partnerin. Treue und Loyalität sind für dich nicht an sexuelle Exklusivität geknüpft. Eine offene Beziehung bedeutet für dich Gleichberechtigung, Abenteuer und die Begegnung auf Augenhöhe und dafür bist du bereit, deine Hausaufgaben zu machen.
2. Du bist unsicher
Grundsätzlich kannst du dir eine offene Beziehung vorstellen. Du bist schon öfter unkonventionelle Wege gegangen. "Das haben wir schon immer so gemacht" existiert in deinem Wortschatz nicht. Trotzdem verlierst du dich manchmal noch in Gedanken und Sorgen, ob eine offene Beziehung für dich/euch das Richtige wäre.
Überlege dir Rahmenbedingungen, in denen du dich oder ihr euch als Paar sicher fühlt, erste Schritte in Richtung offene Beziehung zu gehen. Wie könnte eine offene Beziehung für euch ganz konkret aussehen? Nehmt den Druck raus und schafft erstmal einen sicheren Rahmen. Dann fällt euch der nächste Schritt ganz bestimmt leichter.
3. Du entscheidest dich gegen eine offene Beziehung
Treue hat für dich zwei Seiten, zum einen die emotionale, zum anderen die körperliche. Deine Beziehung und eure Exklusivität als Paar sind dir heilig und das ist völlig in Ordnung. Auch in monogamen Beziehungen können Freiheit und Abenteuer eine Rolle spielen. Du hast dich bewusst für das Konzept der Monogamie entschieden, weil dieses Beziehungsmodell deinen Bedürfnissen am ehesten entspricht.
Passt das Beziehungsmodell zu dir? Dann ist es das Richtige.
Egal welcher der drei Standpunkte (gerade) zu dir passt, das Wichtigste ist, dass du und dein Gegenüber bereit seid, eure Bedürfnisse ernst zu nehmen. Beziehungen und Bedürfnisse können sich verändern – es lohnt sich, diese regelmäßig zu hinterfragen. Am Ende sollte es eine bewusste und selbstbestimmte Entscheidung sein, wie du leben und lieben willst.
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