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Beziehungsanarchie

Brauchen Beziehungen wirklich Label?

Wenn ich jemanden kennenlerne, stellt sich mir irgendwann – eher früher als später – die Frage: Ist das jetzt eigentlich etwas Ernstes für mich? Woher kommt im Kennenlernprozess mein Wunsch nach Gewissheit? Was ist das denn nun mit uns? Auf der Suche nach Antworten bin ich auf den Begriff der Beziehungsanarchie gestoßen. Ist es gar nicht nötig, Beziehungen zu labeln?

Von Beckmanns

Fragen über Fragen

"Wie lange kennst du ihn schon?", fragt mich meine Freundin, während wir an einem Sonntagvormittag an der Alster spazieren. Eben habe ich ihr recht begeistert von dem Menschen erzählt, den ich gerade regelmäßig sehe. "Und? Ist es etwas Ernstes?" Gute Frage. Ab wann ist etwas Zwischenmenschliches denn ernst? Lässt sich diese Frage so einfach mit ja oder nein beantworten? Und was sagt das überhaupt über die Qualität der Beziehung aus?

Verpflichtung vs. Bedürfnis

Auf der Suche nach Antworten stoße ich auf den Begriff "Beziehungsanarchie". Der Grundgedanke stammt von der schwedischen Journalistin Andie Nordgren und basiert auf der Annahme, dass es keine formelle Unterscheidung zwischen verschiedenen Typen von Beziehungen benötigt. Man geht mit jedem Freund und jeder Freundin anders um, und so gibt es keine Differenzierung in feste Partnerschaft, nur Freundschaft oder offene Beziehung.

Ich bin angefixt. Ich lese verschiedene Artikel dazu und unterhalte mich mit einem Bekannten, der mir erzählt, dass die Beziehungen, die er lebt, in Richtung Beziehungsanarchie gehen. Ein Konsens wird schnell deutlich: Beziehungsanarchie meint vor allem weg von konventionellen Verpflichtungen und Ideen hin zu einem Miteinander, das auf individuelle Wünsche und Bedürfnisse ausgerichtet ist.

Ich frage meinen Bekannten, wie genau das in seiner Beziehung gelebt wird. Er erklärt mir: "Ich muss keine Kompromisse mit der anderen Person eingehen, wir teilen nur das miteinander, wo unsere Interessen übereinstimmen."

Der Gedanke spricht mich an. Denn Kompromisse zu suchen, zu finden und einzugehen, ist meinen Erfahrungen nach in partnerschaftlichen Beziehungen oftmals Auslöser für Reibereien. Gleich und gleich gesellt sich gern? Gegensätze ziehen sich an? Ja – was denn nun? So wichtig es für mich ist, mich, meine Interessen und Bedürfnisse in einer Beziehung nicht aus den Augen zu verlieren, so gern gehe ich mit für mich wichtigen Menschen auch Kompromisse ein.

Unüberbrückbare Differenzen?

Eine Beziehung heißt für mich nicht, dass jede Minute, jedes Hobby und jedes Interesse mit der anderen Person geteilt werden muss. Aber lebt eine Beziehung nicht von Zugeständnissen? Macht es nicht eine reflektierte Beziehung aus, dass Dinge gemeinsam ausgehandelt werden? Wachse ich nicht auch als Mensch daran, mich in diesen Prozess zu begeben?

Das Beziehungsanarchie-Manifest
Wichtig ist: Es gibt keine singuläre Definition von Beziehungsanarchie (abgekürzt BA oder RA für relationsnship anarchy). Andie Nordgrens BA-Manifest fasst lediglich Richtlinien und Werte zusammen. BA ist nicht gleich Polyamorie. Bei der BA werden Labels abgelehnt. Es spielt keine Rolle, zwischen wie vielen Menschen die Praxis gelebt wird. Wie so oft gilt, findet euren individuellen Weg!

Jede Beziehung ist individuell

Wo mich das Konzept erneut einfängt: Es lehnt Klassifizierungen ab. In der Vergangenheit fiel es mir häufig schwer, zu definieren, was das nun zwischen mir und einer anderen Person ist. Etwa, wenn ich mit jemandem etwas habe, obwohl ich gerade keine feste Partnerschaft möchte – oder es nicht mit dieser Person möchte, die ich aber dennoch sehr gern habe. Was ist das dann? Etwas mehr als eine Affäre, aber eben keine feste Beziehung, und der Begriff “Freundschaft Plus” ist irgendwie doof. Immer wieder fragte ich mich: Benötigt es überhaupt ein Label dafür?

Es ist, was es ist, schrieb bereits Erich Fried. Diese Sichtweise gefällt mir. Nicht jede Beziehung lässt sich in eine Schublade stecken. Sobald du etwas benennst, lädst du einen ganzen Kosmos an Erwartungen und Assoziationen ein. Dabei ist jede Beziehung anders. Ich gehe mit jedem Menschen anders um. Keine Beziehung möchte ich schmälern, denn jede ist auf ihre Art einzigartig und besonders.

Gleichzeitig ist alles stetig im Wandel und auch Freundschaften können sich fließend verändern, ohne dass es eines (neuen) Labels bedarf. Daher ist es meiner Meinung nach auch nicht notwendig, die Beziehung mit jemandem als feste Partnerschaft zu bezeichnen, damit sie als echt und ernst gilt. Das ist wie Heiraten aus Liebe – wenn sich zwei wirklich lieben, wozu dann heiraten?

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Beziehungsanarchie

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"Ich liebe dich." – "Ich weiß."

Sind solche Gesten nicht auch jene gesellschaftlichen Konventionen, von denen wir uns so gern lossagen wollen?

In der Beziehungsanarchie werden also Label hinterfragt, doch wie steht es um konventionelle Gesten, etwa die Zauberformel: Ich liebe dich. Knutschen beim dritten Date, Sex beim fünften, ein "Ich liebe dich" nach einem halben Jahr? Ein Freund sagt mir: "Ich sage ‘Ich liebe dich’, wenn ich es fühle. Das kann nach sechs Monaten sein oder nach 6 Tagen." Ich selbst habe es häufig erlebt, dass der Satz zu früh ausgesprochen wurde, ewig auf sich warten ließ, oder in einer jahrelangen Beziehung nie gefallen ist.

Bei Beziehungsanarchisten muss der Status des Miteinanders nicht ständig durch Worte oder Gesten bestätigt werden. Diese Sichtweise finde ich unglaublich schön und sie spricht für einen sehr achtsamen Umgang miteinander. Die mitgebrachte Lieblingsschokolade etwa ist auf der einen Seite aufmerksam, aber sind solche Gesten nicht auch jene gesellschaftlichen Konventionen, von denen wir uns so gern lossagen wollen?

Und wie viel spannender – und gleichzeitig intimer – ist es, die Verbindung zum:zur anderen so intensiv zu gestalten, dass diese Bestätigung nicht notwendig ist?

 Wozu braucht es Labels, wenn die Gefühle und der Umgang miteinander stimmen?
Wozu braucht es Labels, wenn die Gefühle und der Umgang miteinander stimmen?
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Liebe ist keine begrenzte Ressource

Zurück an die Alster und zum Gespräch mit meiner Freundin. Anstatt die Intensität einer Beziehung quantitativ daran zu messen, wie lange eine Person schon in meinem Leben ist, sagt es doch mehr über die Art der Beziehung aus, was wir miteinander erleben, worüber wir sprechen, welche Werte und Vorstellungen wir teilen.

So bin ich diesem Menschen, den ich erst wenige Wochen kenne, durch unsere intensiven Gespräche, körperliche Intimität und das bedingungslose Vertrauen bereits jetzt so viel näher, als ich es Freund:innen, die ich viele Jahren kenne, jemals war.

Gleichzeitig spüre ich, wie durch unser so achtsames Miteinander eine Sicherheit und Verbindlichkeit entsteht, die keines Labels bedarf. Es ist vollkommen okay, wenn es da Personen in meinem oder seinem Leben gibt, die eine wichtige Rolle spielen. Auch wenn ich für eine polygame Beziehung eher nicht bereit bin, so kann ich doch sehen: Liebe ist, ähnlich wie Freundschaft, keine begrenzte Ressource, die nur zwischen zwei Personen stattfinden kann.

Beziehungsanarchie gelingt nur, solange eine Basis aus klarer Kommunikation, Ehrlichkeit und Offenheit besteht.

Mit verschiedenen Personen gehst du unterschiedliche Verbindlichkeiten ein, schaffst du eigene Vereinbarungen. Bei Beziehungsanarchisten verlaufen die Grenzen zwischen Freundschaft und Liebe fließend, bestätigt mir auch mein Bekannter. Anarchie meint hier eben nicht, dass du immer tun darfst, worauf du Lust hast: Beziehungsanarchie gelingt nur, solange eine Basis aus klarer Kommunikation, Ehrlichkeit und Offenheit besteht.

Ist eine Beziehung überhaupt gleichberechtigt, wenn sie nicht auf Kompromissen basiert? Unabdingbar für eine gelingende Beziehung auf Augenhöhe ist für mich, dass beide die gleichen Grundwerte teilen. Ich habe es selbst schon häufig erlebt, dass meine sehr offene und tolerante Einstellung bei meinem Gegenüber auf Unverständnis stößt.

Und wenn ich das Gefühl habe, meine Werte verteidigen zu müssen und gleichzeitig die Haltung meines Gegenübers so gänzlich von meiner eigenen abweicht, stellt sich schnell das Gefühl ein, das passt nicht mit uns. Eine gewisse Übereinstimmung halte ich für unglaublich wichtig für gegenseitiges Verständnis.

Tipp: Unsere Autorin und ihr Weg zur Selbstakzeptanz

Wir sind heteronormativ-monogam geprägt

Auch Menschen, die das Prinzip der Beziehungsanarchie leben, sind heteronormativ und monogam geprägt groß geworden. Trotz vieler Übereinstimmungen und spannender Denkanstöße in der Auseinandersetzung mit dem Thema spüre ich einen inneren Widerstand. Daran merke ich deutlich, dass ich mich nicht bedingungslos in allen Punkten der Beziehungsanarchie wiederfinden kann und will.

Dadurch, dass es eine gesellschaftliche Norm gibt und wir alle, egal ob bewusst oder unbewusst von ihr beeinflusst sind, gibt es eben auch Menschen, die Ideen und Überzeugungen, wie beispielsweise die der Beziehungsanarchie, in Frage stellen. Und das ist okay! Alles ist ein Lernprozess.

Wichtig ist, dass du deine Haltungen und Handlungen möglichst selbstachtsam und persönlich formst und regelmäßig hinterfragst. Letztendlich bin ich selbst für mein Leben verantwortlich und auch dafür, wie ich es gestalten will – vollkommen egal, was andere davon halten.

 

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