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Am Set eines alternativen Pornos

Vor Ort beim letzten Drehtag zu "Hätte, hätte, Fahrradkette"

"Hätte, hätte, Fahrradkette" ist das aktuelle, alternative Pornofilm-Projekt von Maike Brochhaus und Sören Störung ("Häppchenweise" und "Schnick Schnack Schnuck"). Autor Philip Siegel war beim letzten Drehtag für uns am Set - und musste die Erfahrung machen, dass ein alternativer Porno-Dreh viel Geduld, gute Nerven und einiges an Flexibilität erfordert.

Was ist das "Alternative" am alternativen Porno?

Steffen und Mona liegen auf dem Sofa eng beisammen und streicheln sich mit einem Lächeln, Laura und Theo krabbeln halbnackt dazu. Alle Akteure kuscheln sich aneinander, während Paul, der Kameramann, noch eine Folie vor das Fenster klebt und Janosch, der andere Kameramann, Scheinwerfer eindreht. Beide tragen einen Hipster-Bart. Die Anspannung ist deutlich zu spüren, man merkt: Jetzt wird es ernst.

Sex vor der Kamera ist Ausnahmezustand. Bei den vier Akteuren senkt sich eine Art Intimitäts-Haube, die Abschottung gegen die Außenwelt, das Verdrängen des Teams – so läuft das oft auch bei ganz normalen Porno-Produktionen. Im Gegensatz dazu haben aber die Akteure hier das letzte Wort. Erst wenn sie sagen, es geht los, ist es soweit. Warten, geduldig sein, Verzögerungen aushalten, das ist der der Preis für das, was Maike Brochhaus "Authentizität" nennt.

Maike ist die Regisseurin, zusammen mit Sören, ihrem Freund. Heute ist letzter Drehtag von "Hätte, hätte, Fahrradkette", einem sogenannten alternativen Pornofilm. Aber was ist das "Alternative"?

Seit zwei Wochen wird schon gedreht. Heute ist letzter Drehtag.
Seit zwei Wochen wird schon gedreht. Heute ist letzter Drehtag.
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Die Orgie startet... und ich muss draußen bleiben

Zwei Wochen liegen bereits hinter dem Team. Alle sind geschafft. Und nun steht die Orgie an. Aber für mich beginnt die Schlusssequenz mit einer herben Enttäuschung. Maike kommt auf mich zu.

"Die Schauspieler haben beschlossen, dass du jetzt gehen musst", eröffnet sie mir. "Sie fühlen sich durch deine Anwesenheit gestört." Ich muss schlucken und fühle mich ungerecht behandelt. Zehn Stunden begleite ich das Team schon. Ich wollte jetzt wissen: Wie lassen Maike und Sören Porno-Szenen drehen – im Gegensatz zu den fast 30 Dreharbeiten von Profis, aber auch sogenannten Amateuren, die ich in den letzten Jahren als Autor für zwei Bücher über Pornografie in Deutschland begleiten durfte.*

Daraus wird nun nichts. Doch die Fragen bleiben ja. Was bedeutet hier "alternativ"? Wer sind Maike und Sören? Und wieso entschließen sich vier junge Menschen für ein "erstes Mal" vor der Kamera? Also beginne ich mit meiner Reportage ein paar Stunden zuvor.

*"Porno in Deutschland – Reise durch ein unbekanntes Land" (2010) und "Drei Zimmer, Küche, Porno – Warum immer mehr Menschen in die Sex-Branche einsteigen" (2017)

 

Pleiten und Pannen - aber mit sexualpolitischer Aussage

Frühstückstisch auf der Dachterrasse einer alten Brotfabrik, Hinterhofatmosphäre, Backsteinmauern. Verwitterte Holzdielen, abblätternder Lack. Maike sitzt am Tisch, heute ist ein wichtiger Tag. (Maike hat auf Lehramt studiert und beginnt bald ihr Referendariat.) Denn am späten Nachmittag soll die Orgie gedreht werden. Bisher hat das mit den Sexszenen nämlich nicht so geklappt.

Video: Drehpause auf der Dachterasse

Die Akteure Steffen, Theo, Mona und Laura (von rechts nach links) diskutieren.

"Eine Sex-Szene mussten wir abbrechen, weil die Chemie zwischen den beiden Akteuren nicht passte", erzählt Maike. Sie meint Laura, 21 Jahre alt, eine kleine Frau mit vollem schwarzen Haar, die gerade an den Tisch tritt. "Das ging einfach nicht", ergänzt Laura. "Ich und der Typ sind nicht miteinander warm geworden." Der Dreh wurde abgebrochen.

Maike erzählt weiter von den problematischen Sex-Szenen. "Ein andermal sollten eine Polizistin und ein Linksradikaler Sex haben. Als der mal keinen hochgekriegt hat, hat er dann den Knüppel genommen und die Polizistin damit penetriert."

Die Autonomen sind offenbar auch nicht mehr das, was sie einmal waren, denke ich.

"Das war eine gute sexualpolitische Aussage", schätzt Maike die Situation nachträglich ein. "Keine Angst vor nicht erigierten Schwänzen."

So ist Maike: eine bedingungslose Verfechterin einer Porno-Philosophie, die auch immer den politischen Aspekt bedenken will.

Eine andere Szene, die so im Drehbuch stand – und dann nicht gedreht wurde: "Das Set ist eingerichtet, Steffen und die Frau sind bereit. Dann waren aber plötzlich die Kondome in der passenden Größe verschwunden und einfach nicht mehr aufzufinden. Aber ohne machen wir es am Set nicht, also wird die Sexszene später nachgeholt."

Damit nicht genug. Maike erzählt weiter: "Es sollte eine lesbische Szene geben – mit vier Frauen. Dummerweise hatten drei der Frauen dann ihre Tage, eine lag mit Migräne im Bett. Endzeitstimmung." Ich muss lachen. "Immer nur Probleme", erzählt Maike.

Aber anstatt hinzuwerfen, war man geduldig. Nach drei Stunden hat es dann wohl doch noch gefunkt. "Die Chemie hat gestimmt, es wurde gelacht, viel gesprochen, die Stimmung war herzlich. Was will man mehr." Maike schaut sichtlich zufrieden.

Authentische "Doku-Aufnahmen" statt gespielter Lust

Porno-Dreharbeiten sind sehr häufig eine komplizierte Angelegenheit, weil hier Authentizität dargestellt werden soll. Vermutlich heißen die Akteure deswegen auch nicht Schauspieler, weil es weniger darum geht, einen Charakter zu spielen, als vielmehr Geilheit darzustellen. Aber bei Maike und Sören geht es um mehr: Auch das Zwischenmenschliche, die sexuelle Spannung müssen stimmen. Und deshalb handelt es sich hier um Männer und Frauen, die eine Rolle spielen, die sie aber auch selbst sein sollten.

Maike: "Wir wollen eben keine Abhandlung von Wort- und Handlungshülsen, diese ganze Porno-Rhetorik interessiert uns nicht. Wir wollen echte Menschen, die miteinander kommunizieren. Das ist dann aber auch anstrengend, weil es selten so läuft, wie wir uns das vorgestellt haben. Aber so ist das eben, wenn man einen Porno dreht, der nichts vortäuschen soll."

Alles vegan. Vor mir auf dem Tisch stehen: Früchte-Nuss-Brot, Gemüse-Kokos-Suppe und Tofu-Rosso mit Kichererbsen und Bärlauch. Mittendrin steht ein überquellender Aschenbecher.

Auch wenn es zum Sex vor der Kamera kommt, geht es hier anders zu. Das fängt schon damit an, dass in dem neuen Film keine einzige Cumshot-Szene vorkommen wird. Das war schon in dem Vorgängerfilm "Schnick Schnack Schnuck" so. Man sucht also die klassische Beweis-Szene für den authentischen Porno-Dreh vergebens: Der Mann, der ejakuliert, ist im Normal-Porno ein absolutes Muss. Hier, bei Maike und Sören, taucht sie nicht auf. Das liegt aber nicht daran, dass sie nicht auftauchen darf, sondern an den spontanen Sex-Situationen: Die Akteure lassen es einfach nicht dazu kommen, also warum sollten sie dann dazu angehalten werden, etwas zu tun, was nicht passiert?

Maike und Sören wollen authentischen Sex – dazu gehört dann auch, dass keine Stereotypen bedient werden. Mir fällt auf: Sogar das Catering genügt besonderen Ansprüchen. Alles vegan. Vor mir auf dem Tisch stehen: Früchte-Nuss-Brot, Gemüse-Kokos-Suppe und Tofu-Rosso mit Kichererbsen und Bärlauch. Mittendrin steht ein überquellender Aschenbecher.

Die Handlung von 'Hätte, hätte, Fahrradkette'

Aber um was geht es eigentlich in "Hätte, hätte, Fahrradkette"? Der Filmtitel soll für die Unkalkulierbarkeit des Lebens stehen, dafür, dass es keinen Sinn macht, im Nachhinein zu räsonieren, was man alles hätte anders machen können. Was zählt, ist das Hier und Jetzt. Und so versteht Maike nicht nur ihre Filmfiguren, sondern auch ihr ganzes Projekt, in dem sich alle Teammitglieder immer wieder auf die unkalkulierbaren Momente der Gegenwart einzustellen haben.

Undenkbar in einem "normalen" Porno: Eine gezeichnete Szenenabfolge.
Undenkbar in einem "normalen" Porno: Eine gezeichnete Szenenabfolge.
 

Die Story: Zwei Pärchen beschließen spontan, sich ein Wochenende lang auf Dating-Plattformen herumzutreiben und zu schauen, was passiert. Das Motto: Alles zulassen, was sich an Gelegenheiten ergibt. Sich ausprobieren. Geil oder Scheiße, so heißt die App im Film, gemeint ist Tinder.

Jetzt steht eine Probe an. Die komplette Schlussszene mit viel Dialog soll einmal durchgespielt werden. Die vier Akteure kommen zusammen. Dazu das komplette Team. Ich zähle 14 Leute, die hier ständig zwischen den Tischen, dem Sofa, der offenen Küche und vor den Bücherregalen auf und ab laufen. Die drei Kameramänner Paul, Janusch und Willem, Susi, die Kameraassistentin, Maske, Ton, Licht, Maike und Sören. Für einen Pornofilm sind das fast Hollywood-Dimensionen, obwohl: Ich frage mich ja schon, ob man das hier überhaupt einen Pornofilm nennen kann. Maike selbst spricht dann übrigens auch gerne von "Doku-Aufnahmen", wenn sie Porno-Szenen meint.

Dahinter steckt der Gedanke, dass hier gar kein gespielter Sex abgefilmt wird, sondern wahrhaftiges Miteinander dokumentiert wird. Das klingt verkopfter, als es tatsächlich ist, weil am Drehort doch locker Wörter fallen wie "ficken" und "Schwanz". Aber die Akteure sollten sich schon so mögen, dass sie wirklich Sex haben wollen, selbst wenn die Kamera jetzt gerade nicht dabei wäre. Wo also der normale Porno auf äußerlich sichtbare Zeichen des Echtseins setzen muss (in der Regel der männliche Orgasmus), propagieren Maike und Sören eine Art "innerer" Authentizität: Akteure, die sich wirklich mögen. Wenn nicht, haben alle Beteiligten ein Problem.

Alternativer Porno: Mehr als ein Anheizmedium

Zurück zur Probe: Mona und Steffen liegen jetzt auf dem Sofa und ziehen Bilanz ihrer Dating-App-Begegnungen. Laura kommt dazu und schenkt Wein ein. Mir fällt auf: Hier geht es entspannt und heiter zu. Eine Art WG-Feeling stellt sich ein. Und das, obwohl man schon zwei Wochen anstrengende Arbeit hinter sich hat.

Aufwändige Technik beobachtet die Laien-Akteure bei der Dialog-Probe
Aufwändige Technik beobachtet die Laien-Akteure bei der Dialog-Probe
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Dann kommt Theo mit einen tranceartigen Auftritt. Es folgt sein zentraler Monolog: "In langjährigen Beziehungen kommt man notwendigerweise in eine Phase, wo der jeweilige Partner die Bedürfnisse des Anderen nicht mehr abdecken kann. Die beginnt nach der Verliebtheitsphase."

Das ist so ein typisches Maike/Sören-Ding: Für die beiden ist der Pornofilm nicht unschuldiges Anheizmedium zur Selbstbefriedigung, sondern Tragetasche für politische Statements, die das Beziehungsleben der Menschen auf eine neue Grundlage stellen sollen. Kurz gesagt: Es geht um Konventionen – und wie man da raus kommen kann.

Studenten und Lebenskünstler: Der Background der Akteure

Ganz schön viel intellektueller Hintergrund. Übrigens auch bei den Akteuren. Steffen, Mona, Theo und Laura haben zu tun mit: Sexualwissenschaften, Genderforschung, Erziehungsberatung oder sind einfach nur Lebenskünstler.

Laura hat von Anfang an beeindruckt, wie Maike und Sören mit Menschen umgehen. Ihr "Initiativerlebnis" war "Schnick Schnack Schnuck". "Das war für mich ein neuer Zugang zum Feminismus, weil ich schon immer fand, dass 'Feminismus' ein ziemlich elitäres Wort ist. Der Film aber hat das Wort geerdet. Ich möchte das mit meinem Engagement verstärken."

Steffen hat bei Facebook gelesen, dass Maike und Sören Darsteller suchen. "Ich will das besser machen, was ich in Pornos sehe. Man kann sich ja nicht immer nur beschweren."

Auch Mona (25) spricht wie eine Frau, die ihr Leben in theoretischen Traktaten abbilden will: "Ich habe mich viel mit sexpositivem Feminismus beschäftigt. Ich habe Bock auf Sex. Also warum nicht das vor der Kamera realisieren, was ich selbst gerne sehen möchte. Ich finde, es gibt perversere Dinge als Pornografie." Ihren Eltern muss sie aber noch sagen, was sie so in ihrer Freizeit macht.

Von der Mühseligkeit des Filmemachens

Dann aber wird wieder geprobt. Filme machen ist so unendlich mühsam. Zu jeder Kleinigkeit, die gelöst sein will, gesellen sich geschwind ein Dutzend weiterer Erledigungsnotwendigkeiten. Die Lampe an der Decke geht nicht an. Kaputte Birne? Falsches Kabel? Defekter Anschluss? Allein diese Fragen zu lösen dauert wieder eine halbe Stunde. Dann kippt die Leiter um und verfehlt nur knapp das sündhaft teure Ton-Mischpult. Beinahe hätte man jetzt ein großes Problem gehabt.
"Können wir jetzt proben?" Den Satz habe ich von Maike heute schon ein dutzendmal gehört.

Sören und Maike ringen um den Ablauf der nächsten Szene.
Sören und Maike ringen um den Ablauf der nächsten Szene.
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Die Akteure scheinen bisweilen etwas überfordert von der Bedeutung, die ihren Rollen eingeschrieben wurde. Das ist aber nicht schlimm. Denn schon "Schnick Schnack Schnuck" atmete diesen Geist einer Art Graswurzelbewegung in Sachen Pornografie. Aber das mit ganz viel Engagement und technisch anspruchsvollem Equipment.

Nach immer neuen Anläufen, Sätzen, die irgendwo abbrechen, Gängen, die verstolpert werden und Kameramännern, die sich gegenseitig ins Bild geraten, ist es dann soweit. Man will mit dem Drehen anfangen. Nicht nur Dialog, sondern auch die Orgie.
Vorher setzt sich Maike nochmal zu den vier Akteuren und bespricht den bevorstehenden Sex. Dabei fragt sie in die Runde, ob vielleicht noch ein weiteres Paar mitmachen könne. Die Vier sind sich uneinig, die Stimmung droht zu kippen.

Das Quartett hat – so vermute ich – schon einige Zeit damit verbracht, sich untereinander auf diesen ja irgendwie auch heiklen Moment vorzubereiten, so dass Maikes unangekündigter Vorschlag die mühsam hergestellte Emo-Statik ins Wanken geraten lässt. Es dauert erst wieder eine Stunde, bis die Diskussion zwischen den Vieren abgeschlossen ist. Ergebnis: das Paar soll draußen bleiben. Nun endlich kann das Team das Set betreten und die letzten technischen Details lösen.

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Hätte, hätte, Fahrradkette...

Gerade, als es so aussieht, als könnte der letzte Drehtag mit einer Porno-Szene zu Ende gehen, werde ich dann von den Akteuren gebeten, den Raum zu verlassen. Ich gebe zu: Ein wenig sauer bin ich schon. Denn das hätte mich interessiert: Wie konkret unterscheidet sich der heutige Dreh von Aufnahmeabläufen, wie sie sonst in der Porno-Branche üblich sind?

Aber vielleicht ist das ja schon der erste große Unterschied: dass den Akteuren hier solche Entscheidungen überhaupt zugestanden werden, und Maike, der das sichtlich leidtut, sich danach richtet, weil sie die gleichermaßen authentische wie sensible Stimmung für den Sex nicht beeinträchtigen möchte.

Übrigens: Es wird vermutlich noch über ein Jahr dauern, bis "Hätte, hätte, Fahrradkette" fertiggestellt sein wird. Aber wer schon mal sehen will, mit wie viel Liebe zum optischen Detail Maike und Sören ihre Filme machen, sollte sich "Schnick Schnack Schnuck" ansehen – mit ziemlich vielen Sex-Szenen.

 
 
Autor Philip Siegel
Autor Philip Siegel
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Über den Autor:

 

Unser Autor Philip Siegel hat Anfang 2017 sein neues Buch "Drei Zimmer, Küche, Porno - Warum immer mehr Menschen in die Sex-Branche einsteigen" beim Campus-Verlag herausgebracht.


Darin erzählt er von den Porno-Amateuren, die in Deutschland gerade so etwas wie eine sexuelle Subkultur etabliert haben. Für seine Recherchen hat der Autor an über 15 Porno-Sets mehr als 100 Frauen und Männer getroffen. Mehr dazu auf www.3zimmerporno.de.