Im Zug nach ParisZwei Seiten einer Geschichte

Filme wie "Rashomon" oder "Jackie Brown" haben es vorgemacht: Ein und dieselbe Geschichte aus verschiedenen Standpunkten betrachtet, muss nicht langweilig sein! Vielmehr ergänzen die verschiedenen Sichtweisen einander und lassen im Kopf des Zuschauers eine rundere, komplettere Sicht der Dinge entstehen. Die Kurzgeschichtengruppe beweist uns heute mittels des Beitrages von Seven_fl, dass dieses Stilmittel durchaus auch in Kurzgeschichtenform funktionieren kann. Und damit viel Spaß mit "Im Zug nach Paris."

 

Carolas Geschichte

Carola klappte das Buch zu und streckte sich. Seit gut drei Stunden saß sie nun in dem leicht muffigen Abteil des Intercity von Hamburg nach Paris. Gelangweilt starrte sie aus dem Fenster. Bäume, Büsche und vereinzelte Häuser rasten, begleitet vom monotonen Geratter der Schienen, an ihr vorbei. Im Hintergrund schrie ein Baby, Reisende unterhielten sich.

Kaffee. Jetzt einen Kaffee, dachte sie sich und spielte, wie sie es immer tat, wenn sie in Gedanken versunken war, mit dem kleinen Chromring an ihrem Lederhalsband. Nur Eingeweihte wussten, was es mit diesem Halsband auf sich hatte. Sie stand auf, nahm ihre Jacke und ging in Richtung des Bordbistros.

Carola war eine groß gewachsene, schlanke Frau um die dreißig. Eine sehr natürlich wirkende Lady mit einem bezaubernden Lächeln, die es nicht nötig hatte, ihr Gesicht unter Make Up zu verstecken. Wer sie nicht kannte, vermutete eine sehr starke Persönlichkeit, die in einer gewissen Art fast schon egozentrisch wirkte. Doch im Verborgenen brannte ein Feuer voller Hingabe.

Langsam lief sie durch die Gänge des nur halb besetzten Zuges. Kinder rannten laut tobend umher und wurden von aufgeregten Müttern wieder eingefangen. Ein paar Reisende in Anzügen telefonierten wichtig mit ihren Handys oder blickten geschäftig auf die vor ihnen aufgeklappten Laptops.

Im Zwischenabteil vor dem Bordbistro hielt sie inne. Vor ihr stand, mit dem Rücken zu ihr gewandt, ein Mann in einem schwarzen Ledermantel. Er war etwas kleiner als sie und hatte einen rasierten Schädel. Scheiße, einer dieser Rechten, dachte sie sich, als sie ein vorsichtiges "Excuse-moi" aussprach. Der Mann regte sich nicht. Carola räusperte sich, nahm ihren Mut zusammen und tippte dem Fremden auf die Schulter. "Entschuldigung, darf ich?". Der Mann drehte sich erschrocken herum, und beinahe wären ihm die Kopfhörer seines iPods aus den Ohren gefallen, die er aber sogleich selbst heraus nahm. "Oh, sorry, ich habe sie nicht gehört", sagte er mit entschuldigendem Blick zu ihr. Sein Lächeln entschärfte die Situation. Carola erwiderte jenes höflich und schob sich geschmeidig an dem Fremden vorbei, um das Bordbistro zu betreten.

Warmer Duft von frisch gebrühtem Kaffee stieg ihr in die Nase, während sie an der Tasse nippte. Ihr Blick schweifte durch das rollende Bistro. Auch hier taten Geschäftsleute wichtig und redeten lautstark über die Finanzkrise. Plötzlich spürte sie eine Hand, deren Wärme auch durch ihre Jacke deutlich zu spüren war, auf ihrer Schulter. Sie blickte auf und sah in das freundliche Gesicht des Fremden. "Darf ich?" Sie nickte, und der Mann im schwarzen Ledermantel nahm, ein Glas Rotwein in der Hand, gegenüber von ihr Platz.

Schweigend saßen sie sich gegenüber und trotz des Ratterns der Räder auf den Schienen und der Geräuschkulisse von gesprächigen Menschen um sie herum baute sich eine gewisse Spannung auf, die jäh unterbrochen wurde. Kurz und prägnant sagte er nur zwei Worte, die wie ein scharfes, spitzes Messer in sie eindrangen. "Das Halsband", er nickte kurz zu ihr herüber und kniff seine graublauen Augen ernst zusammen. Carola schluckte trocken, wusste er was es zu bedeuten hatte? Verdammt. Sie suchte verzweifelt nach einer Lüge, als er unvermittelt einen Geldschein auf den schmalen Tisch legte und sanft ihre Hand nahm. "Komm!"

Carola fühlte die Holzvertäfelung der Toilettenwand an ihrer Wange. Kaltes Kunstholz rieb sich unwirklich an ihrem Gesicht. In ihrem Nacken spürte sie den harten Griff des Fremden, der sie fest an die Wand drückte. Bewegungslos, unfähig sich zu wehren, stand sie da, währenddessen ihr Herz voller Aufregung bis zum Hals klopfte. Schreien. Ich werde schreien, schoss es ihr durch den Kopf, wenngleich ihr Körper sich nach mehr sehnte.

Langsam öffnete der Mann hinter ihr die Knöpfe ihrer Jeans, die er dann langsam mitsamt dem dünnen Slip bis zu ihren Knien herunterstreifte. Carola schloss die Augen, ihr Blut hämmerte in ihren Schläfen und kleine Schweißperlen liefen in feinen, salzigen Bahnen zwischen ihren Brüsten herunter. Dann fühlte sie den erlösenden Schmerz eines Lederriemens auf ihrer Haut. Carola biss sich auf die Unterlippe und ihre Lider begannen zu zittern. Leise zischend atmete sie die verbrauchte Luft des engen Raumes ein, während sie das verlangende Pulsieren ihrer zuckenden Vagina spürte.

Der zweite Schlag. Abermals biss sich der Lederriemen scharf in ihre Haut. Abermals hörte sie das Surren des Leders, wie es peitschend die Luft zerschnitt, um sie dann, wie eine bissige Schlange, zu zeichnen. Rote Striemen bildeten ein bizarres Muster und brannten sich lustvoll in ihr Fleisch. Dann zog der Fremde sie an ihrem Halsband vorsichtig nach hinten und küsste sanft ihren Hals. Hart spürte sie sein Pochen zwischen ihren feuchten Schenkeln, die bereit waren, ihn zu empfangen. Sein warmes, ruhiges Atmen vermischte sich mit ihrem leisen Wimmern zu einer unwirklichen Melodie des Gebens und Nehmens.

"Knie nieder" flüsterte er mit ruhiger Stimme in ihr Ohr. Sie gehorchte und zwang sich zwischen der Toilette und dem kleinen Waschbecken auf den Boden. Den Kopf nach unten gesenkt, demütig und mit heruntergelassenen Hosen erwartete sie seinen Befehl. Stille. Nur das monotone Geräusch der Eisenbahnwagons war zu hören. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein, als ein jähes Pfeifen des Zuges die Stille durchbrach, während dieser in das Dunkel eines Tunnels eintauchte.

"Mesdames et Messieurs, prochainement nous atteignons Paris la gare du nord!" Langsam öffnete Carola ihre Augen. Um sie herum standen die Menschen aus ihren roten Kunstleder-Sitzbänken auf, nahmen Taschen und Koffer und eilten hastig zu den Türen des Wagons. Carola richtete sich auf, rieb sich kurz die Augen und blickte verwirrt aus dem Fenster. Mitten im Niemandsland der Schlachtfelder von Verdun ragte unversehens ein seltsames Kirchengebilde aus Holz in die Höhe, das überhaupt nicht in die Welt der Temporekorde und Transitzonen passte.

Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Was war nur geschehen? Ein Traum? Wirklichkeit? Unvermittelt blickte sie auf das vor ihr liegende Buch. Ein schwarzes Lesezeichen mit einer ihr durchaus bekannten Triskele aus drei geschwungenen Linien, die durch blutrote Punkte unterbrochen wurden, lugte zwischen den letzten Seiten heraus. Fast schon bedächtig öffnete sie die Seite. Leise flüsterte sie den geschriebenen Satz "Langsam öffnete Carola ihre Augen...". Erschrocken schloss sie das Buch.

"Der Titel: Im Zug nach Paris."

Steves Geschichte

Steve hasste es, mit dem Zug zu fahren. Der Gedanke an schwitzende, sich aneinander reibende Körper, die sich hastig und ohne Rücksicht in den Gängen der Züge vorbei schoben, bereitete ihm Kopfschmerzen.

Er sprach selten. Worte waren für ihn nur ein notwendiges Übel der Kommunikation. Er handelte.

Am frühen Morgen schon, kurz bevor er in den Zug einsteigen wollte, hatte er sie bereits bemerkt: diese schlanke, groß gewachsene Lady, die diese besondere Natürlichkeit ausstrahlte. Und doch erkannte er eine gewisse Unsicherheit in ihrem Blick. Eine Unsicherheit, die er... Laut rollte der Zug an ihm vorbei und riss ihn aus seinen Gedanken.

Die Türen des Zuges öffneten sich und ein Pulk an Reisenden formte eine fleischige Masse, die sich schnaufend und keuchend in die Wagons drückte. Menschen bahnten sich ihren Weg durch die Wagen, verstauten Taschen und Koffer, Kinder schrieen, während Mütter aufgeregt an ihren kleinen Armen zerrten.

Steve wartete bis sich auch der letzte Reisende durch die Tür bewegte und schnippte seine Zigarette auf die Schienen. Ein Zugbegleiter blickte ihn grimmig an und verwies ihn mit einem Fingerzeig auf das Rauchverbot innerhalb des Bahnhofs. Steve lächelte. "Ich rauche nicht", dann betrat er den Zug.

Er blieb in einem Zwischengang, der von einem Abteil der zweiten Klasse zu dem Bordbistro führte, stehen und lehnte sich an die Wand. Der Zug setzte sich ruckelnd, fast ächzend in Bewegung, während Steve aus einem Fenster den immer kleiner werdenden Bahnhof beobachtete, der dann letztendlich ganz verschwand.

Von Zeit zu Zeit liefen andere Fahrgäste durch "sein" Abteil und blickten ihn zumeist etwas ängstlich an. Womöglich dachten sie, er wäre einer dieser verdammten Rechtsradikalen, und jenes nur, weil er einen rasierten Schädel hatte. Er schmunzelte bei dem Gedanken, wie sie wohl reagieren würden, wenn er ihnen erzählte, dass er in Wirklichkeit jüdischer Abstammung ist.

Stunden vergingen, Häuser, Bäume und Büsche rauschten an ihm vorbei und aus den Kopfhörern seines iPods dröhnte laut Disturbed's "Pain Redifined", als er plötzlich das Tippen von zarten Fingerspitzen auf seiner Schulter spürte.

Erschrocken drehte er sich um, und beinahe hätte er sich dabei selbst die Ohrhörer herausgerissen, deren Kabel sich an einem Knopf seines Ledermantels verfingen. Er blickte in die strahlend-hellen Augen der Fremden, die er am Morgen auf dem Bahnsteig sah. "Oh, sorry, ich habe sie nicht gehört", sagte er höflich, während er sich lächelnd der Kopfhörer des iPods entledigte. Die Fremde nickte freundlich zurück und schob sich grazil an ihm vorbei. Ohne dass sie es bemerkte, folgte er ihr in das rollende Bistro.

Während sie Platz nahm, beugte er sich an die kleine Theke, um einen Rotwein zu bestellen. Angewidert schaute er sich um. Die Menschen in diesem Teil des Zuges lösten Unbehagen bei ihm aus, er konnte mit diesen Manager-Typen, wie er sie nannte, einfach nichts anfangen. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie die Lady gedankenversunken an ihrem Kaffee nippte, dann ging er langsam zu ihr.

Sanft legte er seine Hand auf ihre Schulter und spürte das erschrockene Zucken ihres Körpers. Nervös blickte sie zu ihm auf, erlaubte ihm aber sogleich, gegenüber von ihr Platz zu nehmen.

Schweigend sah er sie an, beobachtete jede ihrer Bewegungen und trotz des Lärms um sie herum fühlte er diese alles durchdringende Stille, die sie beide umgab. Seine Blicke folgten den spiegelnden Reflexen, die vom Licht der Oktobersonne auf dem kleinen Chromring ihres Halsbandes wiedergegeben wurden. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren und seine graublauen Augen formten sich zu kleinen Schlitzen. Dann nickte er ihr zu und sagte etwas. "Das Halsband." Die Fremde errötete leicht und er konnte spüren, dass sie sich nun wie ein Kind fühlte, welches etwas Unerlaubtes getan hat. Ruhig legte er einen Geldschein auf den Tisch und legte sanft seine Hand auf die ihre. "Komm!"

Steve stand hinter der Fremden. Sein linker Arm war weit von sich gestreckt. Seine Hand legte sich fest um ihren Hals und drückte sie gegen das kalte Kunstholz der Toilettenvertäfelung. Mit der rechten Hand fasste er langsam zu ihrer Jeans, die er Knopf für Knopf öffnete und dann schließlich mitsamt ihrem Slip herunterzog. Er lächelte bei dem Anblick und zog einen schwarzen, feingliedrigen Lederriemen aus der Manteltasche.

Im Licht der schwachen fünfundzwanzig Watt Glühbirne sah er, wie sich der Schatten seines rechten Armes dunkel und bedrohlich über der Fremden erhob. Seine Augen blitzten auf, dann zerschnitt der Lederriemen die warme, stickige Luft des engen Raumes. Mit einem scharfen Zischen vermählte sich das Leder mit dem weißen, samtweichen Fleisch der Fremden. Sie wimmerte leise, gequält von ihrem eigenen, sie erlösenden Schmerz.

Steve holte erneut aus und abermals biss sich das Leder, gleich einem Feuer voll unbändiger Lust und Begierde, in ihren gezeichneten Körper. Sein Herz pumpte das Blut durch die Gefäße seines Körpers. Er beugte sich über sie und rieb sich hart pochend zwischen ihren nackten Schenkeln. Sanft zog er sie an ihrem Halsband zu sich, um sie mit einem zarten Kuss aufzufangen. Ihr Atem klang wie eine Melodie der Sehnsucht, welche von seinen Herztönen begleitet wurde.

"Knie nieder!" Seine eigene Stimme durchbrach das Schweigen und er trat einen Schritt zurück. Langsam zwängte sich die Fremde auf den Boden, um sich ihm für diesen Moment zu schenken. Dann ertönte unvermittelt ein Pfeifen und der Zug raste in die Dunkelheit eines Tunnels.

"Mesdames et Messieurs, prochainement nous atteignons Paris la gare du nord!" Steve öffnete die Augen nur langsam. Sein Kopf schmerzte und weich fühlte er das rote Kunstleder an seiner Wange. Blitzartig stand er auf, taumelte, drängte sich an Reisenden vorbei, die gerade dabei waren, ihre Taschen aus den Gepäcknetzen zu holen und eilte zur Bordtoilette.

Auf dem Weg dorthin fiel ihm ein leerer Platz auf, auf dessen Ablage ein Buch lag. Ein kleines Lesezeichen aus schwarzem Leder, geprägt mit einer Triskele aus drei geschwungenen Linien, die von roten, gestickten Tropfen unterbrochen wurden, zog ihn nahezu magisch an. Langsam, fast schon etwas nervös nahm er das Buch. Seine Pupillen weiteten sich und er las "Steve öffnete die Augen nur langsam..." Das Buch glitt aus seinen Händen und fiel auf den Boden vor ihm.

"Der Titel: Im Zug nach Paris."

© Seven_fl

Der Autor

Im Zug nach Paris

Unser Dank für diese Story gilt Seven.

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