Ins Gerede kam "Nymphomaniac Teil 1" vor allem wegen seiner pornografischen Szenen. Die wahren Qualitäten des Streifens liegen allerdings ganz woanders. Wir stellen euch den ersten Teil eingehender vor und gehen dabei auch auf seine Vorgeschichte ein.
Der Medienhype um "Nymphomaniac"
Minutenlanges Schwarzbild. Der Zuschauer hört zaghaft plätscherndes Wasser, auf dem Boden und Dächern auftreffende Wassertropfen und das monotone Kreischen von verrostetem Metall, das auf anderem Metall reibt. Dann zieht Regisseur Lars von Trier das Bild auf. Wir sehen das Ende einer engen Gasse. Der Filmemacher zeigt uns in einer langen Kamerafahrt, was wir vorher nur hören konnten: Er filmt ein Rinnsal aus Regenwasser, Wassertropfen, die von Dächern tropfen, und ein altes, total verrostetes Rad einer Lüftung, das ruckartig seine Kreise zieht. Als von Trier auf eine Gestalt fokussiert, die bewusstlos inmitten der Gasse liegt, lässt er Rammsteins "Führe mich" von der Tonspur knallen und lässt sein Publikum, das bis dahin aufmerksam und konzentriert die kleinsten Geräusche in sich aufsog, so richtig zusammenfahren.
Lars von Trier macht also schon in den ersten Minuten so richtig Alarm. Ebenjenen Alarm, der das Projekt "Nymphomaniac" schon weit vor seiner Entstehung begleitete. Das letzte Lebenszeichen von Lars von Trier war "Melancholia". Auf einer Pressekonferenz zum Film hatte er sich mit unpassenden Aussagen über die Nazizeit gehörig den Mund verbrannt und wurde von der Presse zur Persona non grata erklärt. Dennoch horchte die Presse interessiert auf, als von Trier sein neuestes Filmprojekt vorstellte, welches sich um eine nymphomanische Frau drehen sollte. Erneut wollte er Hardcore-Szenen, wie beispielsweise schon in seinem "Antichrist" geschehen, in den Film einbauen. Diese Ansage ließ die Filmszene vor allem deswegen hellhörig werden, weil von Trier mit Willem Dafoe, Uma Thurman, Christian Slater, Stellan Skarsgård und Shia LaBeouf durchaus ernst zu nehmende Darsteller hatte ködern können, die sich wohl allesamt vehement gegen Hardcore-Szenen verwehren würden.
Doch von Trier sorgte neben den Porno-Ansagen für einen weiteren Clou, indem er durchsickern ließ, dass man einfach via Computer die Köpfe der bekannteren Darsteller auf die Körper von Pornodarstellern schrauben wolle. So schaffte es unter anderem das deutsche Porno-Urgestein Conny Dachs zu seinem ersten Auftritt in einem weltweit beachteten Drama. Also zumindest sein Schwanz schaffte es. Zum nächsten Clou geriet die Diskussion um die verschiedenen Fassungen von "Nymphomaniac". Von Trier ließ früh durchsickern, dass er verschiedene Fassungen des so oder so überlangen Filmes anfertigen wolle. Welches Land dann welche Fassung erhalten sollte, ließ er offen bzw. überließ er die letzte Entscheidung dem entsprechenden Verleih, der seinen Film in dem jeweiligen Land in die Kinos bringt.
Zur Berlinale etwa präsentierte er eine Fassung des ersten Teils von "Nymphomaniac", die deutlich länger war, als die am 20. Februar 2014 in den deutschen Kinos startende Fassung, dabei aber im Vergleich sowohl Szenen missen ließ als auch komplett andere Szenen enthielt, als man nun aktuell im Kino sehen wird. Hinzu kommt, dass im April Teil II starten wird, nach dem, so munkelt man bereits, von Trier eventuell selbst noch eine weitere Fassung präsentieren wird, die beide Teile zusammenfasst und "Nymphomaniac" noch einmal mit neuen Szenen anreichert. Mit derartigen Manövern hielt von Trier sein neuestes Projekt spielend in den Medien und selbige sagten artig "Danke".
So verkündeten zur diesjährigen Berlinale alle Leitmedien unisono, dass die diesjährigen Berliner Filmfestspiele im Zeichen des Sexes stünden. Vorreiter war für alle der pornographische "Nymphomaniac". Von Trier hielt sich diesmal wohlweislich aus der Öffentlichkeit heraus und erntete im Grunde die Früchte seiner bisherigen Bemühungen. Zudem konnte er sich auf seinen Hauptdarsteller Shia LaBeouf verlassen, der für von Trier die Rolle des wilden Derwisches übernahm. Der Mime, der aufgrund dummer Äußerungen zum Thema Raubkopien in Hollywood in Ungnade gefallen ist und sogar von seinem Förderer Steven Spielberg fallen gelassen wurde wie eine heiße Kartoffel, sorgte für diverse schräge Auftritte und hielt so das ehrgeizige Projekt von Triers weiterhin im Gerede.
Am Ende dieses Possenspiels steht nun ein Film, der in der Lage ist, sein Publikum rundweg zu verblüffen...
Der Trailer zu "Nymphomaniac Teil 1"
"Nymphomaniac Teil 1" und seine fünf lustvollen Kapitel
Sind die harten Rammsteinklänge verhallt, wird die reglose Gestalt am Boden von einem netten Herren geweckt. Er bietet der Dame an, Polizei oder Krankenwagen für sie zu rufen, doch sie möchte beides nicht. Sie fragt ihn, ob er sie mit zu sich nach Hause nehmen könne, um sich kurz aufzuwärmen. Der Mann, Seligman sein Name, willigt ein und kredenzt der offensichtlich verprügelten Frau in seinen vier Wänden einen wärmenden Tee und bietet ihr trockene Klamotten an. Dabei kommen die beiden ins Gespräch. Joe, so heißt die Frau, offenbart ihm, dass sie eine verkommene, eine schlechte Frau sei. Eine Nymphomanin, die die Männer im Sekundentakt fresse. Seligman glaubt der Frau zunächst kein Wort, bittet sie aber, ihm zu berichten, warum sie so ein schlechtes Bild von sich habe. Ab sofort entwickelt sich "Nymphomaniac Teil I" in zunächst fünf Kapiteln (in Teil II werden drei weitere folgen), die von Trier in Form und Inhalt variiert.
Kapitel 1: Der versierte Angler
Kapitel 1 widmet sich dem Erwachen der sexuellen Lust in Joe. Highlight ist eine überspannte, sehr komische Episode um Joe und ihre Freundin B., die sich einen Fickwettbewerb in einem voll besetzten Personenzug liefern. Diesen Coming of Age Abschnitt inszeniert von Trier mit lockerer Hand und viel Sinn für abgedrehten Humor. Vor allem die Analogien zum Anglersport, die Seligman zu dem Männerjagdverhalten der jungen Joe zieht, sind absolut großartig und transportieren viel hintersinnigen Witz. In diesem Kapitel bereitet von Trier die Bühne für die fantastisch und sehr natürlich aufspielende Schauspieldebütantin Stacy Martin, die Joe in jungen Jahren verkörpert und den ersten Teil von "Nymphomaniac" mit ihrer Darstellung mühelos beherrscht. Einzig optisch wird sie wohl nicht jedermanns Geschmack im Publikum treffen. Dazu ist sie in ihrer Optik zu speziell.
Kapitel 2: Jerôme
In diesem Kapitel erlebt Joe etwas, was sie bisher noch nicht kannte: Sie verliebt sich. Ausgerechnet in ihren Entjungferer Jerôme, der ihr zum einen einst den ersten Sex ziemlich versaute und zum anderen ihr neuer Chef wird, als sie merken muss, dass ein Medizinstudium nichts für sie ist und sie eine Beschäftigungsstelle sucht. Doch Jerôme bemerkt von ihren Gefühlen nichts und entpuppt sich bald als arg sprunghafter Charakter. Von Trier inszeniert dieses Kapitel sehr steif, sehr geordnet, wohlüberlegt, genauso wie Joe ihren neuen Job wahrnimmt und wie sie ihn vor allem ausfüllt. Hier lernt sie auch etwas wichtiges über Sex, allerdings wird ihr das erst viel später bewusst werden:
Kapitel 3: Mrs. H
Das absolute Highlight des ersten Teils von "Nymphomaniac" ist Kapitel 3. Dieses wurde einfach als "Mrs. H" betitelt und wartet inhaltlich mit etwas auf, was zumindest ich in dieser Form noch nie in einem Film gesehen habe. Joe will hier eigentlich nur einen ihrer "Stecher" loswerden, weil der nächste bereits sinnbildlich vor ihrer Tür mit den Hufen scharrt. Sie stellt also ihrem aktuellen Bettgenossen ein aus ihrer Sicht nicht ernst gemeintes Ultimatum: Er solle seine Frau verlassen, dann werde sie mit ihm zusammen leben. Tatsächlich klappt das und sie ist den "Störenfried" los. Kurz darauf klingelt es an ihrer Tür. Doch dort wartet nicht der nächste Lover, nein, da steht der soeben vergraulte Herr und hat seine gepackten Sachen unter dem Arm. Er sei bereit für sie. Bevor Joe ihn wieder abservieren kann, steht plötzlich dessen Frau mit den drei gemeinsamen Kindern in der Tür.
Brillant gespielt von Uma Thurman drängt sich die Frau wundervoll passiv aggressiv in das Leben ihres "Ex" und dessen neuer "Hure". Dabei entstehen unzählige, wundervoll komische Momente, die sich immer mehr steigern und irgendwann gar groteske Züge annehmen. Spätestens wenn der eigentlich für diese Zeit eingeplante Liebhaber von Joe auf der Bühne des Schauspiels erscheint und er als erstes von Uma Thurmans Figur begrüßt wird, die ihm gleich noch ihre Kinder vorstellt, hält man sich den Bauch vor Lachen.
Gleichermaßen begreift man in diesem Kapitel erstmals auch, wie zerstörerisch Joes Lebensstil eigentlich ist. Und man merkt, dass ihr selbst das gar nicht auffällt. Mit diesem rasend komischen Kapitel wird also gleichzeitig ein Umschwung im Ton des Filmes vorbereitet und es mischen sich vermehrt düstere Momente unter. Von Trier arbeitet bei diesem Kapitel mit einem anderen, einem schmaleren Filmformat als vorher, um die Enge der Situation, wenn sowohl Joe als auch ihre Opfer auf engstem Raum gefangen sind und sich nicht mehr aus dem Weg gehen können, zu betonen.
Kapitel 4: Delirium
An "Mrs. H" schließt sich das vollkommen in Schwarz-Weiß belassene vierte Kapitel an. Dieses heißt "Delirium" und dreht sich um den Verlust einer geliebten Person im Leben von Joe. In bestechend klaren Bildern zelebriert von Trier hier einen naturalistischen Filmstil, der auch vor ekligen Bildern nicht zurückschreckt. Humor und Lockerheit findet man hier nirgendwo, dafür wird dem Zuschauer klar, dass Joes Nymphomanie für sie nur ein Ventil ist und dass sie der Sex selbst schon lange nicht mehr befriedigt.
Kapitel 5: Die kleine Orgelschule
Das letzte Kapitel von "Nymphomaniac Teil I" beleuchtet via Splitscreens und mittels einer Analogie zu einem Werk von Bach die Zeit, in der unter den zahlreichen Bettgesellen Joes drei sind, die deutlich herausstechen. Der Erste, weil er nur um ihr Wohl bemüht ist. Der Zweite, weil er sie in seinem ganzen Verhalten an eine Raubkatze erinnert. Und der Dritte … nun, weil er Jerôme ist. Ihre lange Zeit unerfüllte große Liebe. Der sie fickt, als gäbe es kein Morgen.
Doch Joe fühlt nichts...
"Nymphomaniac Teil 1" bietet fantastische Unterhaltung und Denkanstöße
Wieder lärmen Rammstein mit ihrem "Führe mich" von der Tonspur, Schwarzbild. Ende. Und die Gewissheit, gerade einem großartigen Film beigewohnt zu haben. Von dem skandalträchtigen Pornogeschwurbel im Vorfeld ist auf der großen Leinwand nicht viel zu sehen. Ja, "Nymphomaniac" ist freizügig. Ja, es gibt Hardcore-Szenen: Doch diese sind kurz und stakkatoartig geschnitten. Der Zuschauer erlebt explizite Blowjobs, Schwänze in Mösen, gespreizte Beine... Doch diese offensichtlichen Aufreger, diese Provokationen des Massengeschmacks gehen im Rest unter, denn die Stärken des Filmes sind ganz andere.
Absolut unerwartet traf mich der humorige Unterton des Filmes. Dieser ist teils sehr bitter und funktioniert eher nach der Devise, wenn es nicht so traurig wäre, wäre es brüllkomisch. Doch von Trier bringt sein Publikum oft zum Lachen. Immer und immer wieder. Aber er trifft auch die ruhigen und ernsten Momente punktgenau und lässt dabei so manches laute Lachen plötzlich wieder verstummen. Auch der Wechsel von einem eher lockeren Ton zu einem zunehmend ernsteren gelingt ihm vortrefflich, was vor allem an den brillanten Dialogen und den starken Darstellern liegt.
Zum Niederknien in von Triers zugänglichstem Werk überhaupt sind vor allem die zwischen den Kapiteln lancierten Szenen um Stellan Skarsgård und Charlotte Gainsbourg als Seligman und Joe in älteren Jahren. Von Trier schmeißt hier mit Analogien, zitatwürdigen Textzeilen und trockenem Humor nur so um sich. Er erdet mit diesen Szenen geschickt seine Sex-Amok laufende Hauptfigur, indem er sie auf einen scheinbar absolut unvoreingenommen Charakter treffen lässt, der ihre Taten immer auch aus anderen Blickwinkeln sieht und ihr Perspektiven in der Sicht auf ihr Leben eröffnet, die Joe so noch nicht kannte. In der Folge kommt auch dem Zuschauer Joes Verhalten gar nicht so falsch vor, wie sie es selbst hinstellt. Man driftet also merklich zu Seligmans' Sicht der Dinge hin und erhält so ebenfalls eine erstaunlich unvoreingenommene Einstellung zu dem gesamten Film und seinem ernsten Thema.
Was bleibt, ist im Grunde das Ausbleiben des vorprogrammierten Skandals. Denn wo häufiger vom großen Mainstream-Porno gefaselt wird, bleibt ein Film, der mit vollkommen unverhofften Qualitäten punktet. Einen so leichten und so humorvollen Film, der ganz allmählich den Ernst der Story offenbart und die verzweifelte Situation seiner Protagonistin präzise zuspitzt, hat man von Regisseur von Trier selten gesehen. Und der Abspann von "Nymphomaniac Teil I", macht definitiv Lust auf mehr, denn hier bekommt man bereits Bilder von Teil II geboten.
Dieser wird ab dem 3. April 2014 in den deutschen Kinos laufen. Darin geht die Suche Joes nach Liebe und dem erfüllenden Sex weiter. Der Weg dahin scheint gespickt zu sein mit Sandwiches mit afroamerikanischen Mitbürgern, intensiven SM-Erfahrungen und weiteren Kapiteln in der Beziehung zwischen Joe und Jerôme. Auch die Nymphomanie Joes und deren zerstörerische Kraft scheinen in Teil II noch eindrücklicher thematisiert zu werden. Fällt "Nymphomaniac Teil II" dabei nur halb so unterhaltsam aus wie Teil I, dürfen im Umfeld des Kinostarts gerne wieder alle "Porno" brüllen. Hauptsache ich finde dann wieder ein solches Füllhorn an Überraschungen, Ironie, starken Darstellern, unbändigem Stilwillen und fantastischen Dialogen.
"Nymphomaniac Teil 1" - Das Leben einer Nymphomanin
Originaltitel: Nymphomaniac
Herstellungsland: Belgien, Deutschland, Dänemark, Frankreich, Großbritannien
Erscheinungsjahr: 2013
Regie: Lars von Trier
Darsteller: Charlotte Gainsbourg, Stellan Skarsgård, Stacy Martin, Shia LaBeouf, Christian Slater, Jamie Bell, Uma Thurman, Willem Dafoe, Mia Goth, Sophie Kennedy Clark, Connie Nielsen u.a.
Verleih: Concorde Filmverleih
FSK Freigabe: ab 16
In diesem Sinne:
freeman
- 1. Teil: Nymphomaniac
- 2. Teil: "Nymphomaniac Teil 1"