4,5 Millionen Menschen leben in Deutschland mit einer körperlichen Behinderung. Egal ob schwer oder nur in geringem Maße eingeschränkt: Sichtbar behinderte Menschen haben immer noch mit dem Verhalten ihrer Mitmenschen zu kämpfen. Von betretenem Schweigen über heimliches Hinstarren bis hin zu offen ausgesprochener Intoleranz und Abneigung.
Auch in Sachen Sexualität und Beziehung kursieren viele Vorurteile. Zumeist wird behinderten Menschen erst gar keine Sexualität zugesprochen. Doch auch behinderte Menschen haben ganz alltägliche Bedürfnisse und Wünsche.
Um Vorurteilen vorzubeugen und Hemmungen abzubauen, möchten wir euch ein langjähriges Mitglied des JOYclubs vorstellen. Thalon ist seit 2008 im JOYclub angemeldet und vor allem in der Gruppe Leben mit Handicaps aktiv. Er berichtet uns im Interview von seinen Erfahrungen mit dem sensiblen Thema Sex und Behinderung.
Sex und Behinderung: Wie lässt sich das realisieren?
Hallo Thalon! Danke, dass du dir die Zeit nimmst, uns und den Mitgliedern des JOYclubs zu erzählen, wie Sexualität und Behinderung zusammenpassen. Magst du dich selbst noch einmal kurz vorstellen?
Thalon: Hallo JOYclub! Ich bin Thalon, in den Vierzigern und lebe in Koblenz. Von Beruf bin ich Informatiker einer Bundesbehörde und lebe seit meiner Geburt mit meiner Behinderung: Einem langsam fortschreitenden Schwund der Muskeln verursacht durch eine Muskelatrophie. Trotz meiner Behinderung bin ich sehr aktiv. Ich reise gerne, bin lebenslustig und habe viel Spaß an allen möglichen Dingen: Zum Beispiel bin ich in einem Klingonen-Fanclub. Ich bin ein sehr offener Mensch und tausche mich gerne mit anderen Interessierten zu allen Themen rund um Behinderung aus.
Magst du ein wenig mehr darüber erzählen, inwieweit dich deine Behinderung einschränkt? Vielleicht vorrangig im Zusammenhang mit Liebe und Sexualität? Was geht, was geht nicht?
Thalon: Wie ich bereits erwähnte, ist meine Erkrankung ein Muskelschwund. Ich kann mich kaum bewegen. Meine Gesichtsmuskulatur funktioniert noch einigermaßen und ich kann frei sitzen, was bei dem Schweregrad meiner Behinderung nicht selbstverständlich ist.
Was nun die Sexualität betrifft: Mein Schwanz funktioniert noch ganz normal. Denn der Penis ist ja kein Muskel. Ich kann also durchaus Lust empfinden und eine Erektion bekommen. Das unterscheidet mich zum Beispiel von Menschen mit Querschnittslähmung, bei denen auch die Empfindung betroffen ist.
Offensichtlich bin ich nicht der aktive Part im Bett, trotzdem bekomme ich die Dinge gut geregelt. Ich bin offen und immer bereit zu klären, was ich möchte, was meine Partnerin möchte, was uns beiden gefällt oder eben nicht. Wichtig ist, dass man miteinander reden kann! Sicher benötige ich oft die Hilfe meiner Partnerin, aber wir haben Spaß im Bett und alles ist schön!
Tabuthema Sexualbegleitung: Fluch oder Segen?
Wie hast du deine sexuellen Wünsche, Vorlieben und Fantasien ausgelebt, bevor du den JOYclub kennengelernt hast?
Thalon: Eigentlich habe ich da eine ganz normale Entwicklung hinter mir. Meine erste Beziehung mit 25 hielt gleich sieben Jahre lang, ehe wir uns auseinander lebten. Danach habe ich einiges ausprobiert: Sexualbegleitung, Internetforen und so weiter. Im JOYclub habe ich dann Kontakt zur BDSM- und Polyamorie-Szene gefunden und Menschen kennengelernt, die ich sehr mag und wertschätze. Ich hatte auch selbst Beziehungen, die polyamor waren. Im Augenblick lebe ich allerdings wieder in einer monogamen Beziehung, was ebenso schön ist.
Du sagst, dass du auch eine Sexualbegleitung ausprobiert hast. Ist diese Lösung in deinen Augen eine dauerhafte Alternative für Menschen mit Behinderung?
Thalon: Bei der Sexualbegleitung geht es darum, die Möglichkeiten und Wünsche zu definieren, die dem Klienten sexuelle Befriedigung verschaffen. Es können auch therapeutische Aspekte beinhaltet sein, aber das Ganze ist und bleibt eine Dienstleistung. Eine Spezialform der Prostitution. Nur, weil ich mit einer Behinderung lebe, müssen meine sexuellen Erfahrungen nicht auf diese Art des Kontakts begrenzt sein.
Du hast uns erzählt, dass deine sexuellen Interessen durchaus auch Bereiche berühren, die nicht mehr ganz so standardmäßig sind. Du magst BDSM? Wodurch ist dein Interesse am „etwas anderen Sex“ erwacht und inwieweit war es dir bisher möglich, deine Neigung auszuleben?
Thalon: Ich bin generell ein sehr aufgeschlossener Mensch und ich erforsche alle meine Neigungen mit großem Interesse. Gerade als behinderter Mensch setzt man sich sehr stark mit den eigenen Bedürfnissen, Wünschen und Möglichkeiten auseinander. Man geht explorativ an die Dinge heran und erkundet, was einem gefällt. Auf dieser Suche bin ich mit vielen Themen in Berührung gekommen und habe Dinge über mich selbst erfahren.
Im Bereich BDSM zum Beispiel weiß ich, dass ich eher dominant empfinde. Auch sadistische Fantasien erregen mich auf gewisse Weise. Diese Erfahrungen waren und sind für mich sehr wertvoll und ich hoffe, dass ich mir die Offenheit in dieser Hinsicht bewahren kann. Ich bin lebenshungrig und möchte nicht mit Scheuklappen durch die Welt gehen.
Auch gemeinsam mit meiner jetzigen Partnerin probiere ich immer wieder neue Dinge aus. Wir legen beide Wert darauf, Dinge nicht immer nach Schema F ablaufen zu lassen sondern über Kommunikation zu immer neuen Impulsen und zu neuer Inspiration zu gelangen.
Devotees: Wenn die Behinderung zum Fetisch wird
Auch im JOYclub gibt es sogenannte Devotees, also Menschen, deren Fetisch auf Behinderungen fixiert ist. Hast du Erfahrungen mit Menschen gemacht, die dich nicht trotz, sondern gerade wegen deiner Behinderung kontaktiert haben?
Thalon: Nicht im JOYclub, aber im Internet allgemein. Die Devotees, die ich getroffen habe, waren sehr offene und tolerante Menschen, die mich eben nicht nur auf meine Behinderung reduziert haben. Das empfand ich als sehr bereichernd für mich und vor allem für mein Selbstbewusstsein. Sonst ist es ja so, dass man trotz seiner Behinderung gemocht oder geliebt wird. Es ist in der Tat ein anderes Gefühl, wegen seiner Behinderung begehrt zu werden. Würde ich mich jedoch reduziert oder nur als Fetischobjekt benutzt fühlen, würde ich mich nicht weiter auf diesen Menschen einlassen.
Sätze wie "Ich sehe deine Behinderung gar nicht mehr!" sind zwar positiv gemeint, doch in der Konsequenz wird dadurch ein wesentlicher Teil von mir ignoriert. Denn ich bin ja ein behinderter Mensch und möchte da gar nichts beiseite schieben oder verleugnen. Fakt ist: Die Behinderung ist da. Ich lebe gerne mit ihr, denn ich lebe einfach grundsätzlich gerne. Ich möchte im Ganzen wahrgenommen und geliebt werden.
Wir bedanken uns bei Thalon für das wirklich aufschlussreiche Interview!
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