Langsam streife ich meine Kleidung ab, trage nur noch den leichten Morgenmantel. Unterhalb des Bauchnabels bin ich nun nackt. Fünf Augenpaare verfolgen, wie ich mich auf den Stuhl setze, der in den folgenden Minuten mein persönlicher Thron werden soll. Sie warten darauf, dass ich bereit bin, meine Beine zu öffnen. Drei, zwei, eins …
Von kinkyminky
Es ist ein grauer Montag in Berlin, als ich mich mit drei weiteren Frauen zu einem Termin der besonderen Art treffe. Wir wollen an einem der "Viva La Vulva Workshops" von Iva Samina teilnehmen. Plätze sind heiß begehrt, die Terminfindung vorab gar nicht so leicht. Wir vier kennen uns, aber nicht so, wie wir uns laut Seminarbeschreibung noch kennenlernen sollen: Sexological Bodyworkerin und Coachin Iva will, dass wir neugierig auf unsere Vulven sind. Auf die eigene und auf die der anderen. Denn ich werde später nicht nur meine eigene Vulva betrachten, sondern auch die der anwesenden Frauen.
Muschis gucken, oder was?
Zugegeben, der Plan, einen Vulva-Workshop zu besuchen, ist ein Brüller auf jeder noch so trockenen Feierabendparty. Staunen, Kopfschütteln, glänzende Augen sind die gängigsten Reaktionen, die ich für das Vorhaben ernte. Die persönliche Statistik zeigt: Bei Frauen reicht die Bandbreite von absolutem Unverständnis bis hin zur Verschwesterung, den meisten Männern hingegen möchte ich gerne ein Speicheltuch reichen, um das losgetretene Gedankenkarussel zu bremsen. Warum ich mir "Muschis angucken" will, ohne sexuelles Interesse an ihnen zu haben, steht als größte Frage im Raum. Ist das nur ein Trend und bringt es mir überhaupt etwas?
In der Praxis weicht die Coolness und das "Ich bin ja so 2023"-Gefühl schnell der Realität. Wir befinden uns in einer Berliner Altbauwohnung, der Kursraum ist gemütlich eingerichtet, aber eben doch kein Paralleluniversum. Und es sind Menschen vor Ort (Mist!), die mir zwischen die Beine schauen wollen. Okay, aber will ich das bei ihnen auch?
Neben der Kursleiterin ist auch eine Fotografin anwesend, die uns später ablichten wird, wenn wir das wollen. Keine Aktfotografie, keine geschönten Positionen, aber ein liebevoller Blick auf unseren Schoßraum, unseren Altar, wie Iva ihn auch nennt.
Besuche Iva auch auf ihrem Instagram-Kanal. Kraftvolle Bilder findest du ebenfalls bei der Fotografin Frau Rabe auf Instagram.
Willkommen in der Vulva-Zone
Für einen soften Einstieg holt uns Iva mit einer kurzen Vorstellungsrunde ab. Wir alle erzählen, was uns in den Workshop treibt und was wir uns von den kommenden Stunden erhoffen. Immer noch unsicher, ob ich zur Zielgruppe gehöre, lege ich mein Dilemma offen: Ich habe kein Problem mit meiner Vulva, da 08/15-Optik und voll funktionsfähig. Kein Problem, keine Konflikte – aber irgendwie auch keine Beziehung zu meiner Vulva?
Ich bin kein sehr spiritueller Mensch, ich lache beim Yoga, erstelle während der Meditation Einkaufszettel im Kopf und finde statt der inneren Mitte eher ein permanentes Hungergefühl vor. Wo kein himmelschreiender Notstand herrscht, weigere ich mich strikt, in die Selbstbearbeitung zu gehen. Kein Wunder, dass zwischen meiner Vulva und mir eine Art Anti-Kommunikation herrscht. Wozu eine tiefere Verbindung anstreben, wenn doch an der Oberfläche alles wunderbar scheint? Für den Workshop formuliere ich deshalb den Wunsch, mehr mit dem in Kontakt zu treten, was ich bislang als selbstverständlich erachtet habe.
Baustellen, die tiefer gehen
Während ich mich mit meiner Vulva im bequemen Nicht-Beachtungs-Modus befinde, sind die Gräben andernorts tiefer. Die Teilnehmerinnen des Kurses berichten von einem gespaltenen Verhältnis zu ihrer Vulva, aber auch von einer Entwicklung hin zu einer positiveren Annahme. So langsam wird mir bewusst, welche Bedeutung dieser Workshop haben könnte. Denn jeder vorsichtig formulierte Satz trägt eine Verletzlichkeit in sich, die von der Gruppe zugleich warm aufgefangen wird. Eine Aussage hallt besonders nach: "Ich finde meine Vulva hässlich."
All eyes on you
Wir steigen ins Vulva-Watching ein und Iva zeigt uns, wie es geht: Jede geht einzeln nach vorne, entkleidet sich, soweit sie will, und setzt sich vor den Halbkreis der anderen. Wer mag, öffnet dann die Beine. Wer noch einen Schritt weiter geht, erlaubt den anderen, näher zu kommen und in Worte zu fassen, was sie im eigenen Schoßraum zu erkennen glauben.
Die Kursleiterin betont: Wir entscheiden individuell, wie weit wir gehen und wen wir näher kommen lassen. Eine Absage ist nur eine Absage. Eine Einladung zum Zusehen nur eben diese. Wir bewegen uns in einem Raum, der keinen sexuellen Kontext und damit eine wertfreie Nacktheit zulässt.
Kein Problem für mich und meine Neutralitätsvulva, doch seltsam ist es schon, als ich wenige Minuten später gespannt auf das Genital der Kursleiterin starre. Das ist anders, als ich es von Aktfotografie und aus Pornos kenne. Die Distanz quasi nicht vorhanden; die Vulva ist nah und vor allem eines – natürlich und ungeschönt.
Der fremde Schoß hat etwas von einem Gemälde, in dem ich immer mehr Details entdecke, ein Ozean, der mich bannt. Nur dass an der Vulva noch ein Mensch dranhängt. Dieser Person soll ich meine Eindrücke mitteilen, was erstaunlich leicht gelingt. Ich habe mir zuvor nie Gedanken darüber gemacht, dass Vulven die Persönlichkeit ihrer Trägerinnen widerspiegeln könnten. Doch in diesem Augenblick scheint es keinen Zweifel zu geben, dass Vulva und Mensch zueinander passen. Die Assoziationen kommen erstaunlich schnell in meinen Kopf: künstlerisch, weich, selbstbewusst.
Besondere Faszination löst die ungestutzte Intimbehaarung in mir aus. Klar, in Sexfilmen sehe ich selten Haare und auch in der Sauna begegnen mir oft einheitlich Frisuren, die kaum noch Rückschlüsse auf die natürliche Form ziehen lassen.
Vulva-Watching ist kein Besuch im Kuriositätenkabinett
Jetzt sind wir dran. Noch bevor ich mich freiwillig melden kann, springt eine andere Teilnehmerin auf. Es ist die Frau, die ihre Vulva zuvor noch als hässlich bezeichnet hat. Sie ist nervös. Doch mit jedem Kleidungsstück, das fällt, fällt auch der Selbstschutz. Und sie öffnet tatsächlich vor uns die Beine und erlaubt uns, nach und nach näherzukommen.
Was ich sehe, erfüllt mich mit großer Zärtlichkeit. Eine kleine, feine und sehr besondere Vulva. Eine zarte Blüte, die einmalig erscheint. Und ein Mensch dazu, der seinen wunden Punkt mit uns teilt. Dieser letzte Umstand ist einer, der mich noch lange nach dem Workshop begleiten wird. Es geht beim Vulva-Watching nicht um einen Besuch im Kuriositätenkabinett und nicht um eine Bühne für Exhibitionistinnen. Es ist ein Raum, in dem wir sein dürfen und uns gegenseitig unterstützen. Teils mit Worten, teils mit stummen Verständnis und in meinem Fall mit großer Dankbarkeit.
Die Königin nimmt Platz
Endlich bin ich an der Reihe und gehe nach vorne. Langsam fällt die zwiebelschichtartig angelegte Winterkleidung und damit auch ein Stück Selbstsicherheit. Gleichzeitig spüre ich ein Kribbeln und eine Wärme, die aus meinem Schoß in den Raum strömt.
Ich nehme auf dem Stuhl vor den anderen Platz und da passiert es: Der Stuhl wird zum Thron und ich zur Königin. Die vor mir sitzenden sind nicht nur das Publikum, sie sind mein Volk, dem die Ehre zuteil wird, mich zu sehen. Es braucht nur wenige Sekunden, bis ich meine Beine öffne und mich stolz aufrichte. Das Zeigen meiner Vulva wird zum Selbstsicherheits-Booster, in diesem Moment kann mir keiner was. Und das merken wohl auch die anderen.
Geradlinig, stolz und doch eine Vulva zum Anlehnen; so sehen sie meinen Schoßraum. Jede Einzelne hat schöne Worte für mich und ich bin fast ein wenig traurig, als die Runde vorbei ist. Das Vulva-Showing hat mir für diesen Moment das Gefühl gegeben, ohne Gegenleistung und Performance wahrhaftig zu strahlen. Keine Nervosität, keine Unsicherheiten. Kurz bin ich versucht, das Blankziehen als Option für andere, angstbehaftete Situationen in meinem Leben in Betracht zu ziehen.
Ein Raum voller Schönheit
Doch schon sind die anderen Frauen an der Reihe, die ihre Vulven nach und nach zeigen. Eine so schön wie die andere, alle besonders, keine gleich. Eine Teilnehmerin menstruiert gerade, wir sehen einen kleinen roten Fleck auf ihrer Slipeinlage. Später sagt sie mir, auch sie als emanzipierte Frau hätte in diesem Moment eine gewisse Scham empfunden. Unsere Blicke und Worte fangen diese Unsicherheit auf, alle stärken wir uns gegenseitig den Rücken.
Eine andere Frau zittert vor Aufregung, ich möchte sie umarmen. Ich will, dass alle Anwesenden spüren, welches Geschenk sie mir heute machen. Der Raum füllt sich mit Anerkennung, Empathie und Respekt wie ein unsichtbarer Schutzwall nach außen.
Die Bilder, die wir füreinander finden, hallen nach: wie der Eingang einer geheimnisvollen Höhle, die Farbe eines aufziehenden Gewitters, der Vogelschwarm in der Baumkrone und die zarte Orchidee.
Und ich hinterfrage meinen eigenen Blick und meine Schubladen, die ich am FKK-Strand und in der Sauna aufmache, und bei aller Aufgeklärtheit mit inneren Wertungen fülle. Bei diesem Workshop spüre ich: Das eigene Genital löst bei so vielen Menschen Unsicherheiten aus, dass es nur mehr als fair ist, mein eigenes Bewertungssystem schweigen zu lassen.
Fotoshooting ohne Filter
Wir sind nun alle untenrum nackt, aus Paritätsgründen entkleidet sich unsere Fotografin ebenfalls. Zu diesem Zeitpunkt erscheint uns das freilich vollkommen normal. Sie hält uns in verschiedenen, ungeschönten Posen fest. Die Bilder, die wir im Nachgang erhalten, sind kaum bearbeitet. Es geht nicht darum, die Realität zu idealisieren, sondern um einen neutralen Blick in den Spiegel und das Bewusstsein "Das bin ich und das ist gut."
Der spaßigste Part des Fotoshootings besteht aber aus dem Schmücken unserer Vulven. Von romantischen Blüten über süße Leckereien bis zur abschreckenden Mausefalle haben wir vorab einiges an Dekoration besorgt. So verwandele ich meinen Schoß in einen geheimnisvollen Ort, ein Naturereignis oder ein Sperrgebiet. Eine liebevolle Annäherung an meine eigentlich neutrale Zone und eine Aufmerksamkeit, die sie sonst nur beim partnerschaftlichen Sex oder solo erhält.
Einige der Frauen machen aus dem Schmücken ein Statement: Eine Teilnehmerin hält sich die Goldkette mit "Cunt"-Anhänger vor die Vulva. Ihr Blick ist pure Selbstsicherheit. Eine andere schüttet sich Paprika-Chips in den Schoß, zwischen den Beinen klemmt eine Dose Bier. Spätestens als das Bier überschäumt, ist klar: Die unliebsame Scham hat Feierabend.
Chips & Bier
Vulva im bunten Bällebad
Vulva als geheimnisvoller Naturraum
Zuckersüße Selbstliebe
Friedensverhandlungen mit mir selbst
Wir verlassen unseren Safe Space nach dem Workshop erschöpft, erfüllt und leicht aufgekratzt. Ich sehe die Teilnehmerinnen nicht mit anderen Augen und betrachte sie doch respektvoller als zuvor. Wir alle haben heute etwas zugelassen, uns aus der Komfortzone bewegt und selbst neu kennengelernt.
In den nachfolgenden Gesprächen wird klar: Wir wollen mehr Orte wie diesen. Orte, an denen wir ohne sexuellen Kontext mit anderen Personen mit Vulva albern, verletzlich, berührt, stark und eben nackt sein können. Orte weiblicher Verbundenheit. Einen Happy-Vulva-Place.
Ich für meinen Teil werde nun wohl häufiger in respektvollen Kontakt zu meiner Vulva treten. Eine Sprache dafür habe ich nun.
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